12 Mark 7 für 1 Stunde Betteln

■ Zwei gymnasiale Pseudo-Wallraffs inszenierten sich als Bettler auf der Obernstraße für die Medien

Wie oft gehen wir an Ihnen vorbei. Achtlos, mit einem flüchtigen, verschämten Seitenblick auf den Pappkarton, der die Gebrechen beim Namen nennt und um das bittet, worauf es in dieser Welt ankommt: Geld. Wie kurz sind die Momente, in denen beim Vorübergehen über die Mark entschieden wird. Bleibt sie standhaft in unserem Portemonaie für die nächste Zeche, oder wandert sie in den Klingelbeutel? Die Menschen, die als Bettler, Rotweinbrüder oder Haste-mal-'ne-Mark -Freaks die Innenstädte be

völkern, haben gelernt, aus dem schlechten Gewissen, das sie uns wohlbestallten, kerngesunden Zeitgenossen bescheren, Kapital zu schlagen. In der Wahl ihrer Mittel sind sie wenig zimperlich. Kleine Kinder werden marktwertbewußt genötigt, still und stumm das Bettlerschicksal zu teilen. Hohlwangige Schäferhundskelette werden zur besseren Illustration der sozialen Trägodie auf der gemeinsamen Decke am Fußgängerzonenrand ins rechte Licht gerückt. Amputierte Armstümpfe ragen entblößt im tiefsten Winter den Passanten entgegen - nacktes Elend, aber schließlich wollen wir für unsere paar Groschen was geboten bekommen.

Welche Schicksale sich hinter den Gesichtern am Boden verbergen, wie erniedrigend die ewige Bettelprostitution ist - über all das machen wir uns nur selten Gedanken. Lobenswert also das Unterfangen zweier Schülerzeitungsredakteure vom Alten Gymnasium, die sich gestern für eine Stunde auf der Obernstraße als Bettler niederließen. Verkleidet und geschminkt vom Bremer Theater hockten Marc-Oliver Schulze und Nils Grede am Rande des Konsumparadieses. Das obligatorische Schild „Ich habe Hunger“ vor den Knien, übten die beiden sich in Leidensmiene und Demutshaltung. Und registrierten, was ihre Dauer-Schick

salsgenossen ständig erleben: die Gleichgültigkeit, die verstörten Blicke mancher Alter, die neugierigen Fragen der Kinder („Mama, warum sitzen die Leute alle auf der Erde“), die Mütter, die ihre Kinder schnell weiterzerren. Sie müssen sich gefallen lassen, daß da ein John-Wayne-Verschnitt vorbeischreitet, die gebündelten Hundert-Mark-Scheine lässig zwischen den Fingern zählend und mit einem hämischen Seitenblick ihnen zuraunend: „Get a job, get a job.“ Sie erleben aber auch die Solidarität der Armen, denn die 12,07 Mark, die nach einer Stunde in ihrem Schlapphut liegen, stammen überwiegend aus den Händen derer, die selber wenig haben, überwiegend aus den Handtaschen älterer Damen. Und als der Kollege Journalist, ebenfalls im Vorfeld von den Beiden informiert, nach einer halben Stunde auftaucht und sich Name und Anschrift der Schüler aufschreiben läßt, kreuzt ein Wermutbruder auf und spricht den Jungs Mut zu: „Wenn der Typ Schwierigkeiten macht, sacht Bescheid, ich bin Anwalt.“ Da hatte er noch nicht mitbekommen, daß sich hinter den vermeintlichen Bettlern kleine Pseudo-Wallraffs verbergen:

Die die Foto- und Fernsehjour nalisten um mediengerechte Be gleitung der Aktion bitten und sich auf diese Weise rund um die

Stunde begleiten und ablichten lassen. Die für eine Stunde in die Haut eines Anderen schlüpfen - und sich ihr wieder entledigen, wenn es zu kalt oder langweilig wird. Die keine Gefahr laufen, angepöbelt zu werden, weil ständig Fotografen in Brennweite lauern. Das ist der Erfahrungshunger der Fernseh-Generation, mal fürn Stündchen zum Elendstourismus, danach Abschminken und Badewanne.

Die Erlebnissucht ist groß. Das Abenteuer lockt an jeder Straßenecke. Warum also nicht öfter umschalten? Zur Erbauung des eigenen Ego. Heute Türke, morgen Krüppel. Was haben wir sonst noch für Angebote im Sortiment? Schwul für zwei Stunden - ein Wochenende auf der AIDS-Intensiv-Station - als Taubstummer unter Blinden. Neue Armut und soziale Ausgrenzung, von Gymnasiasten als selbst inszeniertes Kino -Erlebnis coram publico arrangiert. Daß die Erfahrung des Bettelns die eigene Einsicht nicht verändert, bestätigte Nils Grede. Auf die Frage, wie er denn nun künftig solchen Leuten begegne, sagte der 18-jährige Gerade-eben-noch -Bettler: „Ich glaub, ich werde denen auch weiterhin nichts geben. Wer weiß, was das für Typen sind. Wir haben jetzt 12 Mark gemacht, wenn die das den ganzen Tag machen, ist das ein guter Job.“

Andreas Hoetzel