Ost-KiTas brauchen eine Milliarde Mark

■ Offener Brief an den DDR-Gesundheitsminister: In den KiTas Ost-Berlins gärt es / Erzieherinnen verdienen zwischen 500 und 800 Mark - und müssen Gruppen mit bis zu 30 Kindern betreuen / Desolater Zustand der Baumöglichkeiten für neue KiTas / Mängel am Innenleben

Streik ist ein Wort, mit dem man hierzulande noch sehr vorsichtig operiert. Zu mächtig sind alte Ressentiments. Im ersten Jahr nach Harry Tisch und Erich Honecker wirken noch immer jahrzehntelang eingehämmerte Dogmen. So formuliert sich denn auch angestauter Unmut über Zustände und Bedingungen in Ostberliner KiTas noch verhältnismäßig zahm in einem Offenen Brief an den zuständigen Minister. Nicht mehr „Fünftes Rad am Wagen“ wollen die Erzieherinnen sein, bessere Arbeitsbedingungen sollen geschaffen werden, vor allem geringere Gruppenstärken und mehr Geld soll es für ihre harte Arbeit geben.

Gesellschaftliche Anerkennung sei nötig für den schweren Beruf. Das setzt voraus, daß die Leistungen nun wohl von den Eltern angemessen bezahlt werden müssen und nur noch Berufstätige das Recht auf KiTa-Plätze für ihren Nachwuchs erhalten. Bisher ist die Verwahrung der Kids im öffentlichen Kinderparadies unentgeltlich, nur die Tagesverpflegung muß bezahlt werden. KiTas, getrennt in Kinderkrippen (ein bis drei Jahre) und Kindergärten (bis zum Schulanfang), wurden nämlich bisher vom Staat oder von Betrieben finanziell getragen. Desolater Zustand der Baumöglichkeiten, Mängel am Innenleben, Löhne zwischen 500 und knapp 800 Mark sind normal. Gruppenstärken über 15 Kinder, im Krankheitsfalle der Erzieherin (im Osten eine absolute Frauendomäne) auch schon mal 30 Kinder, sind keine Seltenheit. Das alles will das KiTa-Personal nun nicht mehr hinnehmen. Auch das ist ein Ergebnis der Wende.

Während jenseits des Check-Point-Charly trotz Klein/Mompers rot-grünem Interessenclan die dritte Woche KiTa-Streik standhaft von Eltern und ErzieherInnen durchlitten wird, formieren sich hier die Kräfte, die ihren Anteil an der proklamierten Revolution wollen. Sollte es dem versprechungsfreudigen SED-PDS-Minister Thielmann ernst sein mit sozialen Engagement für seine „Mitstreiter“, so kostet dies den arg gebeutelten Staatshaushalt der DDR wohl eine weitere Milliarde Mark - allein für die Aufstockung der Gehälter. (Zur Zeit gibt es über 21.000 Einrichtungen für mehr als 1,1 Millionen Kinder.)

Es ist zu befürchten, daß der Staatssäckel überfordert wird. Bleibt also der Trost auf morgen oder übermorgen oder...? Ist damit der Streik nun doch in greifbare Nähe gerückt? Die Stimmen dafür mehren sich.

Jürgen Kulinski