: EINGEBILDETE WEISHEIT
■ Hebbeltheater und HdK kooperieren: „Marie“
„Ca ira, ca ira, ca ira“: deutlich klingelt die Erkennungsmelodie der Französischen Revolution durch die elektronische Geräuschkulisse. Im pas de chat, pas de chat, pas de chat hüpfen Hofstaat und das rotbemützte Volk durch das letzte Bild. In einem niedlichen Revolutiönchen verliert das arme Kind Marie-Antoinette am Ende ihr Köpfchen. In „Marie“, einer szenisch-tänzerisch-musikalischen Aktion, resultiert die Revolution aus der Langeweile der Hofschranzen, die sich mit Intrigenspiel und Maskeraden die Zeit vertreiben. Marie, die als ein Kind an den Hof kommt, das sich die Liebe noch wie in einem Gemälde von Watteau denkt und in einer naiven Laune vom natürlichen Leben träumt, ist ihr wehrloses Opfer.
Joachim Janczak und Hartmut Fladt, Professoren an der Hochschule der Künste, schrieben Libretto und Musik für die „Aktion“ Marie, die an zwei Abenden im Hebbeltheater aufgeführt wurde. Der Hofstaat tanzte das Ballett der feudalen Repräsentation, die Bürger erleben die Wirklichkeit im grotesken Spiegel der Commedia dell'Arte. Mit dieser klassenspezifischen Zuweisung der Darstellungsformen entsprach die Inszenierung der heterogenen Zusammensetzung des Ensembles. Die beiden Solisten des Balletts, Uta Hollmig (Marie) und Dieter Hülse (Louis) entlieh man sich bei der Komischen Oper Berlin (DDR), die übrigen Tänzer wurden durch die Tanzförderung des Hebbeltheaters gefunden. Die Schauspieler, die hier Bühnenpraxis erwerben sollten, lernen am Institut für Spiel und Theaterpädagogik der HdK. In manchen Bildern ließ sie der Regisseur Ringo Rautenberg recht unbarmherzig hinter den Tänzern herstolpern, jagte sie tolpatschig durch Ringelreihen und Menuett. Sie fanden sich meist in den Bühnenhintergrund verbannt, durften dort jonglieren oder radschlagen. Aus ihrer unbefriedigenden Funktion als mitgeschleppte Kulisse konnte sie auch der Höhepunkt ihres Einsatzes, die in Schulfunk-Dialoge übersetzte „Halsbandaffäre“, nicht befreien.
Gut zum Zuge kam nur Itziar Real, die einzige Sängerin der Aufführung, die in der Rolle der Maria Theresia, Mutter der Marie-Antoinette, die Ereignisse visionär kommentierte. Auf den Tönen der Zwölftontechnik balancierend war sie klanglich weit von der synthetischen und parodistischen Musik-Collage entfernt und öffnete sich einen fremden dramatischen Raum, von dem aus sie ihre Ängste und Gefühle mitteilen konnte.
Die Inszenierung versuchte, durch Zitate kunsthistorischen Bildmaterials den höfischen Gesellschaftsspielen eine auf die geschichtliche Entwicklung bezogene Bedeutung zu unterlegen. So wurde gleich zur Einstimmung eine Puppe mit einem Tuch von den Diplomaten hoch in die Luft geschleudert: dies verbildliche den „Mensch als Spielball von Interessen“ belehrte das Programmheft. Der Hofstaat tanzte auf Stelzen: so setzte man Herrschaft und Selbstüberhöhung ins Bild. Während Maries Fahrt nach Paris drehten sich übergroße Räder an ihrer Kutsche; gleichzeitig wurden in den Bühnenhintergrund und auf einen Gazeschleier an der Rampe Bilder von Maschinen, Webstühlen und Räderwerken projiziert. Doch dieser deutliche Fingerzeig auf den Anbruch eines neuen Maschinenzeitalters erzeugte höchstens einen Aha-Effekt. Die eingeblendete Weisheit blieb dem Spektakel äußerlich und aufgepfropft; Assoziationen wurden zu Tode geritten; Aufklärung geriet zum bunten Bildungsquiz.
Auch die Choreographie von Jutta Das und David Roland bediente sich der bekannten Formen. In den Anfangsszenen waren die Diplomaten, die als eitle Intriganten Marie und Louis verheiraten, eifrige Nachahmer der zynischen Diplomatie aus dem Klassiker des moderenen Balletts von Kurt Jooss „Der grüne Tisch“. Sie dehnten ihre stilisierten Fechtszenen, die verschnörkelten Gesten der Komplimente, selbstgefälliges Verbeugen, kleine virtuose Einlagen der Selbstdarstellung und die diesmal am roten Tisch zelebrierten Rituale der Konkurrenz und des Betruges endlos aus.
Über konventionelle Balletteinlagen hinaus gingen nur die „Nächte“ der Ehe von Marie und Louis: sie begegneten sich ruckelnd und hölzern wie auf einer ungeölten mechanischen Spieluhr. Sie schienen weder ihrer Sinne, noch ihrer Körper mächtig; ihr Bewegungsfluß war zerstört. Unter den lauernden Blicken der auf die Erbfolge bedachten Tanten fuhren sie wie zwei Automaten aufeinander los, deren voneinander abweichende Programme jede Berührung verhinderten.
Katrin Bettina Müller
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