Moral und Ästhetik

■ „Indien und seine Menschen“ von Madanjeet Singh

Bei Bildbänden sträuben sich einem oft die Haare, wenn man sich daran macht, den begleitenden Text zu lesen. „Indien und seine Menschen“ ist da eine glückliche Ausnahme. Der indische Diplomat Madanjeet Singh war als junger Mann Fotograf, machte im frisch unabhängig gewordenen Indien eine Ausstellung, die das Gesicht des jungen Indiens zeigen wollte. Der Autor, damals Anfang Zwanzig, war Zeuge des Krieges zwischen Moslems und Hindus geworden, kannte Armut und erhoffte sich von der Unabhängigkeit nicht zuletzt das Ende des Elends.

Erst jetzt ist die Ausstellung von damals auch als Buch veröffentlicht worden. Eines der bewegendsten dieser Monate. Wenn Madanjeet Singh die Geschichten zu seinen Licht und Schatten kräftig verteilenden Fotos erzählt, wird der Enthusiasmus des jungen Fotografen lebendig. Er läßt die heutige Situation desto deutlicher werden. Singh schreibt: „Die Armut ist seitdem ein Weltphänomen geworden, das eine Milliarde Menschen auf der Welt in demütigender Entbehrung verharren läßt. Jedes fünfte menschliche Wesen auf diesem Planeten ist davon betroffen. Die schreckliche Tatsache, daß in den Straßen New Yorks fünftausend Bettler und verkrüppelte Kinder herumstreifen, beleidigt mein Gefühl für soziale Gerechtigkeit mehr als die zehnfache Zahl in Kalkutta, Manila, Kairo oder Mexico City. Heute handelt 'This, my people‘ nicht nur von den Besitzlosen Indiens, sondern von all jenen Millionen von Menschen in einer zunehmend größer werdenden Welt, die weitgehend an der gleichen Krankheit leiden.“

Ein Foto, das dem ahnungslosen Betrachter nichts als stimmungsvoll - „Sonnenuntergang in einem Dorf, Punjab“ scheint, ist erheblich mehr: es zeigt drei Männer im, Gegenlicht zwischen abgestellten Karren die Dorfstraße entlang gehen, einen Moslem, einen Hindu und einen Sikh. Eine Utopie mitten im Blutbad. Auch das hier abgedruckte Foto „Beratung“ zeigt einen moslemischen Bauern und seinen Hindu-Freund so sehr in ein Gespräch vertieft, daß sie nicht einmal bemerken, daß sie fotografiert werden.

Es gibt kluge Beobachtungen neben den ausdrucksvollen Fotos. Madanjeet Singh hatte damit begonnen, die berühmten indischen Kunstwerke zu fotografieren, die Höhlenmalereien und Ajanta, die Skulpturen von Kajurao. „Später entdeckte ich, daß die beunruhigenden Flecken an den Wänden der Höhlen von Ajanta meine Phantasie dermaßen beeinflußt hatten, daß sie nicht nur in meinen Gemälden, sondern auch auf meinen fotografischen Kompositionen mit Menschen erschienen. Ich bemerkte, daß ich beim Fotografieren von Männern, Frauen und Kindern angefangen hatte, mir die Flecken und Löcher in den zerrissenen Kleidern der Armen zunutze zu machen. Die Beschädigungen, welche die Malereien von Ajanta verunstalten, und das Elend der Armen, auf das ich so stark reagierte, schienen ein geheimes Bündnis mit meinem Sinn für Ästhetik einzugehen und erhöhten auf diese Weise die Qualität meiner Bilder und Fotografien. Es war so, als arbeitete mein Geist auf zwei Ebenen und als hätte sich mein Unterbewußtsein auf der ästhetischen Ebene dazu bereit gefunden, Armut als einen Teil der Realität zu akzeptieren.“

A.W.

Madanjeet Singh, Indien und seine Menschen - Bilder aus den Jahren 1946-1949, mit einem handschriftlichen Vorwort von Jawaharlal Nehru und einem Geleitwort von Rajiv Gandhi, übersetzt von Margret Schulz-Wenzel, Ernst Wasmuth-Verlag, 160 Seiten mit 96 s/w Fotos, 110 DM