DDR-Gewerkschaften drohen mit Generalstreik

Ziel: Durchsetzung eines Gewerkschaftsgesetzes / Zweiter Tag des FDGB-Kongresses / Radikale Umstrukturierung zugunsten der Einzelgewerkschaften und Entmachtung des zentralen Apparates / Gewerkschaftsbasis bestimmte den Kongreß  ■  Aus Ost-Berlin Walter Süß

Den alten FDGB als Einheitsorganisation der DDR -Gewerkschaften gibt es seit gestern nicht mehr, der neue droht mit einem Generalstreik. Durch eine tiefgreifende Änderung der Satzung auf dem außerordentlichen Gewerkschaftskongreß in Ost-Berlin wurde die Struktur des gewerkschaftlichen Dachverbandes radikal zugunsten der Einzelgewerkschaften verändert. Um die gewerkschaftliche Machtposition angesichts neuer Herausforderungen abzusichern, wurde der Entwurf eines Gewerkschaftsgesetzes verabschiedet, der der alten Volkskammer durch die Drohung mit einem Generalstreik - und zwar „noch vor den Wahlen“ abgetrotzt werden soll.

Solche Beschlüsse waren nur möglich, weil die Zusammensetzung des Kongresses sicher nicht vollständig, aber doch weitgehend von der aktiven gewerkschaftlichen Basis bestimmt worden war: Nur gut sieben Prozent der 2.516 Delegierten waren von den Vorständen auf den verschiedenen Ebenen bestimmt worden, alle anderen hatten die Feuerprobe gewerkschaftlicher Wahlen überstanden. Dreißig Prozent waren Freigestellte und Hauptamtliche, alle anderen - immerhin mehr als zwei Drittel der Delegierten - verdienen sich ihr Geld durch andere Arbeit.

Überraschend zur neuen Vorsitzenden gewählt wurde eine bis dato völlig unbekannte NDPD-Frau aus einem Cottbuser Kohlekombinat, Helga Mausch. Werner Peplowski wollten die Delegierten nicht länger als Vorsitzenden des etwa 8,6 Millionen umfassenden Gewerkschaftsverbandes haben.

Waren die Einzelgewerkschaften bisher de facto Fachabteilungen des FDGB-Bundesvorstandes und seiner regionalen Leitungsorgane, weisungsunterworfen und ohne eigene Finanzhochheit, so können sie jetzt über ihre Finanzen samt Streikfonds, ihre Struktur und Politik selbst entscheiden. Symbolischen Ausdruck findet diese Entmachtung des alten Apparates in der Umbenennung von „Bundesvorstand“ in „geschäftsführenden Vorstand“. Nicht nur symbolischen Charakter hat, daß der zentrale Apparat der Dachorganisation auf ein Fünftel seines Bestandes reduziert werden soll und die alte regionale Leitungsstruktur zerschlagen wird. Die Kreis- und Bezirksvorstände des FDGB werden aufgelöst. An ihre Stelle treten kleine Geschäftstellen mit Dienstleistungscharakter.

Es handelt sich dabei nicht nur um kosmetische Veränderungen, sondern um eine Strukturreform, die - wie der ganze Kongreß - einem doppelten Druck nachgibt: dem Wegdriften vieler Mitglieder - teils in die Passivität, teils in neugegründete Betriebsräte und Keimformen neuer Gewerkschaften - und der Furcht vor dem ausländischen Kapital. Immer wieder kam in Redebeiträgen das Gefühl zum Ausdruck, den durch die Wirtschaftsreform entstehenden Gefährdungen von Lebensstandard und Arbeitsplätzen nichts Effektives entgegensetzen zu können. Angesichts dieser Herausforderungen wäre der alte FDGB - ganz abgesehen von seiner moralischen Diskreditierung bei der Gewerkschaftsbasis - viel zu starr und zu lernunfähig, um gegenhalten zu können.

Trotz der Strukturveränderung des Verbandes konnten sich die Delegierten allerdings nicht dazu durchringen, ihrer Organisation einen neuen Namen zu geben. Die Debatte wurde weitgehend bestimmt von der etwas merkwürdigen Argumentation des Leiters der Arbeitsgruppe Recht, Siegfried Sahr, der behauptete, durch eine Namensänderung würde die Gewerkschaft ihrer Vermögensrechte verlustig gehen. Dem hielt ein Delegierter aus Karl-Marx-Stadt entgegen, die Gewerkschaften würden in diesem Punkt auf jeden Fall verlieren: „Millionen Mark oder Millionen Mitglieder.“ Viele würden die mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Beibehaltung des Namens nicht mitmachen und austreten. Es war das Verdienst der brillanten Versammlungsleiterin Renate Szepanek, einer resoluten Gewerkschafterin aus Rostock, das Problem durch einen wahrhaft salomonischen Vorschlag zu lösen: Der eigene Beschluß sollte als „Empfehlung“ an die Mitglieder interpretiert werden, die darüber in einer Urabstimmung befinden werden.

Der politisch brisanteste Beschluß des Kongresses war, den Entwurf eines Gewerkschaftsgesetzes zu verabschieden, mit dem sich die Gewerkschaften noch vor dem zu erwartenden politischen Erdrutsch am Wahltag 18.März weitgehende Mitbestimmungsrechte und das Streikrecht ebenso wie das Verbot der Aussperrung gesetzlich sichern wollen. Falls die Volkskammer dieser Forderung nicht nachkommt, sollen die Mitglieder in einer Urabstimmung über einen Generalstreik befinden.