Greifswald wird zum Energie-Trauma

Grüne Parteien und Neues Forum: Stillegung des Atomkraftwerkes ist „zwingend“ - aber Versorgungsengpässe drohen Zehn-Punkte-Katalog gegen die Energiekrise der DDR vorgelegt / Grenznahe BRD-Kraftwerke sollen ins DDR-Netz eingespeist werden  ■  Von Manfred Kriener

Berlin (taz) - Die „zwingend notwendige Stillegung“ des Atomkraftwerkes Greifswald bringe der DDR schwerwiegende Energie-Engpässe, auf die „wir keine guten Antworten haben“. Ein Großteil der Energieversorgung im Norden der DDR und die Wärmeversorgung in der Stadt Greifswald seien von dem Atompark unmittelbar abhängig: Er liefere zehn Prozent der Gesamt-Stromversorgung der DDR. Sebastian Pflugbeil, Energieberater des Neuen Forum und dessen Vertreter in der Regierung Modrow, stellte gestern auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der grünen Parteien aus Ost und West, der Berliner AL und des Neuen Forums in Ost-Berlin die Zwangsjacke der DDR-Energiepolitik mit dem Greifswald-Trauma an der Spitze ohne ideologische Vereinfachungen dar. Die Auswirkungen einer Stillegung des „Schrotthaufens in Greifswald“ seien in der Tat gravierend, und dennoch müsse sie unter allen Umständen durchgesetzt werden, weil die Sicherheit nicht mehr gewährleistet sei. Und die habe auch in den Gesetzen der DDR Priorität.

Zur Überwindung der Energiekrise der DDR legten die grünen Parteien und das Neue Forum gestern einen Zehn-Punkte -Katalog vor. Die wichtigsten, kurzfristig wirksamen Vorschläge:

-Angesichts der „realen Gefahr einer radioaktiven Verseuchung Mittel-Europas“ und der „schier unglaublichen Zustände“ in den Atomkraftwerken müsse Greifswald sofort stillgelegt werden.

-Grenznahe Kohlekraftwerke wie Buschhaus und Merum sollen aus dem Netz der BRD zur Direkteinspeisung in die DDR ausgekoppelt werden.

-Der Kohlestromimport aus Österreich soll verdreifacht werden.

-DDR-Grenzstädte sollen ans BRD-Stromnetz.

-Die Energiesubvention in der DDR sei schrittweise aufzuheben, der Preis einer Kilowattstunde von acht Pfennigen dem tatsächlichen Preis von 30 Pfennigen anzupassen.

-Energiefresser wie die Kali-Industrie und die Alu-Werke müßten heruntergefahren, die Versorgung notfalls durch Importe aus der Bundesrepublik gesichert werden.

Die Vorschläge der Grünen reichen bis zu der „schönen Idee“, im Notfall selbst die Diesel-Motoren der NVA-Panzer zur Energieerzeugung einzusetzen. „Dann hat jeder Häuserblock so ein Ding vor der Türe stehen“, meinte bissig eine Journalistin. Während die Runde einhellig aufs Energiesparen setzte, um den dritthöchsten Weltenergieverbrauch zunächst auf ein normales Niveau zu senken und als Ansporn dazu höhere Preise und Energiesteuern favorisierte, warnte Pflugbeil vor Vereinfachungen. Wo nicht einmal Ventile vorhanden seien, um die Heizung zu regulieren, sei Energiesparen nicht möglich. Auch der Zwang zu Stromheizungen in Neubauten lasse den Bewohnern keine Alternative. Schließlich dürfe bei den geforderten Preiserhöhungen nicht die Situation der sozial Schwachen übersehen werden.

Karsten Linke (DDR-Grüne) wies auf die astronomisch hohen Netzverluste hin, die seit den 50er Jahren konstant bei fast sieben Prozent lägen. Das Milliardengrab in Stendhal solle schnell geschlossen und die dort eingesetzten Menschen und Mittel schnell umgeleitet werden.

Die weitgehende energiepolitischen Eintracht zwischen Ost und West-Grünen wurde nur einmal gesprengt, als der Sprecher der Grünen Liga, Kuhn, klarmachte, daß jede Mark für die Umweltpolitik in der DDR ungleich mehr bringe als im Westen. Sein Zusatz, daß dieser Westen umweltpolitisch doch sowieso schon prima dastehe, brachte den Bonner Grünen Wolfgang Daniels in Schwung. Angesichts der schlimmen Situation in der DDR dürften die Umweltprobleme des Westens nicht verniedlicht werden.

Letzter Diskussionspunkt: regenerative Energien. Doch die Frage, wie es hier in der DDR aussieht, konnte niemand beantworten. Die Grünen müssen bei Null anfangen. In den letzten 15 Jahren sei dazu in der DDR keine einzige Studie vorgelegt worden.