Enttäuschung über Boris‘ Abstinenz

■ Ausverkaufte Stadthalle beim Davis-Cup-Erstrundenspiel gegen die Niederlande nur halbvoll

Die Enttäuschung füllt Bände - und Transparente. „Charly für Deutschland - Boris für Helgoland“, hängt es vom ersten Rang der Bremer Stadthalle beim Davis-Cup-Erstrunden-Match Bundesrepublik Deutschland gegen die Niederlande. Noch immer ha

ben die versammelten Fan-Scharen der bundesdeutschen Tennis -Herren dem Champion nicht verziehen, daß er schlichtweg „müde“ ist und deshalb auf seinen Einsatz zugunsten des 21jährigen Newcomers Michael Stich verzichtete. Die Bürde, ohne das Aushängeschild des Teams spielen zu müssen, lastete schwer auf den Jungs. Beim Training auf dem Bremer Supreme -Court herrschten seit Dienstag die leisen Töne und unzufriedenen Mienen vor. Carl-Uwe Steeb („Ich versuche, Boris zu ersetzen und die Mannschaft zu führen“) wandelte mit unbewegten Gesichtszügen zwischen Stadthalle, Parkhotel und Rathaus oder verzog sich flugs in einen der dreißig braun-metallic-häßlichen Karossen, die im Auftrag des Tennis -Sponsors seit Tagen die angereiste Prominenz kutschieren.

Die Anspannung wich erst gestern nachmittag um viertel vor fünf aus Steebs Gesicht. Mit 6:1, 4:6, 6:3 und 6:3 setzte er sich in knapp zwei und einer halben Stunde gegen den Holländer Michiel Schapers duch und sicherte der deutschen Mannsft die wichtige 1:0 Führung. „Ich habe zwar mehr Verantwortung, das ist aber schöner als früher. Jetzt muß ich punkten“, antwortete er nach dem Spiel auf die wiederholten Fragen zum vorläufigen Ende der Aera Boris Becker im Davis-Cup.

Nach dem ersten Satz, der kurz und schmerzlos an Steeb ging, steigerte sich der lange Niederländer, der in der Weltrangliste um 72 Plätze hinter Charly geführt wird, erheblich, servierte eine Serie hervorragender Aufschläge, glänzte mit butterweichen Slice-Returns und schien am Netz dank seiner enormen Reichweite kaum überwindbar. „Ich hatte gehofft, daß es noch schneller geht“, sprach Steeb, der sich im ersten Satz leicht verletzte, seinem Gegner Anerkennung aus.

Zu einem Heimspiel der Holländer geriet die Lärmkulisse zeitweilig in der nur zu einem guten Drittel gefüllten Stadthalle. „Hollands, Hollands“ - Rufe dominierten, während die bundesdeutschen BesucherInnen in beträchtlicher Anzahl auf den Spuren der Vermarktungsstrategie von Ion Tiriac wandelten und die kulinarischen Tempel rund um den Centercourt frequentierten.

Dem Deutschen Tennis-Bund (DTB) kann das gleichgültig sein, seine Bilanz ist gesichert. Dank der kurzfristigen Absage von Becker war die Halle bis auf wenige Hundert Karten ausverkauft. Das bei den Tennis-Verantwortlichen allerorten anzutreffende Verständnis für den Rückzug von Boris aus dem Davis-Cup findet auch darin seine Begründung. Ein Mehr an Einnahmen würde der

DTB auch bei einem erfolgreichen Einzug in die nächsten Runden nicht verzeichnen können. Die kommenden Gegner (zunächst Argentinien, dann Australien und die USA) hätten alle Heimrecht, auch ein potentielles Endspiel mit einer Titelverteidigung würde im Ausland gespielt werden. Für Boris Becker keine rosigen Aussichten, müßte er doch stets auf langsamen Böden gegen den jeweiligen Heimvorteil antreten.

Die Fans müssen sich mit einer langen Abstinenz ihres Helden anfreunden, die Transparente mit der mahnenden Frage „Wo ist Boris“ werden Steeb, Jelen und Stich noch eine Weile daran erinnern, daß sie gemessen werden an den bundesdeutschen Davis-Cup-Erfolgen der letzten Jahre. Die Überflieger-Siege, die One-Man-Shows, die erfolgreichen Fights gegen die Goliaths der Tennis-Welt gehören zunächst einmal der Vergangenheit an. Die Bundesrepublik Deutschland ist 1990 wieder das, was sie im Tennis vor Boris Becker immer war: Mittelmaß. Mühsame Arbeitssiege, Erleichterung im Team, wenn es gelingt, selbst die nach Papierform wesentlich schwächeren Niederländer zu besiegen. Auch Eric Jelen, die Nummer 53 der Weltrangliste, hatte seine liebe Not gegen den an 115 geführten Tom Nyssen.

Andreas Hoetzel