„Wir müssen die Wanderung stoppen“

■ Interview mit Hans Koschnick, dem Vorsitzenden der Internationalen Kommission der SPD, über Europa und die osteuropäischen Staaten

Sie waren gerade bei der Gründung der Mecklenburgischen SPD dabei...

Hans Koschnick: Ich war bei der ersten Delegiertenversammlung dabei. Die Rostocker haben wegen ihrer engen Beziehungen zu Bremen auch mich voll vereinvernahmt. Aber mein Feld ist eigentlich der Ostblock bis einschließlich Jugoslawien.

In die DDR werden jetzt massenhaft Kopierer rübergeschafft. Enteht in der DDR nicht einfach eine Kopie auch der westdeutschen Sozialdemokratie?

Für die Rostocker SPD werden nicht massenhaft Kopierer rübergeschafft. Aber natürlich gibt es Kopierer, ein Schreibgerät. Wir

haben versucht, die Büroausstattung so zu machen, daß sie ein bißchen gegen die massive Position der SED und der Blockparteien ankommen können. Die haben alle hauptamtliche Apparate...

Hans Koschnick, früher Bürgermeister Bremens, ist der Vorsitzende der Kommission für Internationale Beziehungender SPD. Im Rahmen der Arbeitsteilung beim SPD-Vorstand „kommert“ er sich um die sozialdemokratischen Gruppierungen in den osteuropäischen Ländern.

Ist die organisatorische Kraft der DDR-Sozialdemokratie nicht viel schneller hochgepuscht worden als die politische Substanz wachsen konnte?

Die organisatorische Kraft ist ein Übung. Ein Mann, der wie ich Organisationsstrukturen kennt, der schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, welche Organisationsvoraussetzungen da sind. Die meisten Mitglieder haben kein Telefon drüben. Das heißt, wir müssen organisieren wie vor 33, Kuriere, Zehnergruppen... Die haben 40 Jahre das nicht gemacht. Zwei alte Damen haben wir da, um die 70, die können das noch am besten, weil die vor 33 Arbeiterjugend gemacht haben.

Gibt es eine wichtige politische Frage, in der die Rostocker SPD-Leute sagen: „So wie ihr West-SPD das empfindet und entscheidet, so wollen wir das nicht..“ ?

Ich habe ihnen gesagt: Ich bin nicht hergekommen, um Euch zu belehren. Die Dinge, die verändert werden müssen, müßt ihr definieren. Ihr könnt uns höchstens fragen, ob wir mitmachen können, und ob wir Bedenken haben. Die Art und Weise, wie gelegentlich von Bonn auf die Parteien in der DDR Einfluß genommen wird, ist widerlich. Die sitzend auf dem fetten Stuhl und sagen den Leuten, was sie machen müssen.

Sie sagen uns: Freunde, kommt mit Eurem Programm, sehr schön. Wenn wir schreiben würden, wie ihr es geschrieben habt, schmeißen wir aber alles raus, was ihr demokratischen Sozialismus nennt. Wir haben vom Sozialismus die Schnauze voll. Wir geben zu, es war kein Sozialismus, aber der Begriff ist so verdorben, laßt uns über Inhalte sprechen.

Da gibt es die gleich Diskusson, die wir in Godesberg über die Anrede hatten. Wer bei uns Genosse sag, ist ein SED'ist, und wer „Parteifreund“ sagt, da wissen wird. der ist von den Blockparteien. Das sind äußerliche Fragen. In der Frage der Grundwertebestimmung gibt es hundertprozentige Übereinstimmung. Demokratisierung, freiheitliche plurale

Verfassung. In der Ökonomie sind sie fasziniert von der sozialen Martwirtschaft. Das kann ich verstehen, wer vierzig Jahre Arbeiten mußte und das Ergebnis ist so, wie wir es heute sehen, der muß fasziniert sein.

Aber die Umweltschutzregeln, die wir gefunden haben, waren nicht „Marktwirtschaft“, die sind Ordnungsregeln des Staates. Ich habe gesagt: Auch das Problem Arbeitslosigkeit, das kommen wird, löst ihr nicht mit sozialer Marktwirtschaft. Ihr müßt Regeln haben, unter welchen Normen gearbeitet wird. Der Staat muß helfen, wo der Markt nicht ausreicht.

Bei Umweltschutz sehen sie es sofort. Sie sehen es eigentlich auch in der sozialen Sicherung, haben aber noch keine Antwort. Übrigens ich auch nicht. Denn eins sage ich: Wir reden immer nur von der Ökonomie: Wenn die drüben nicht klappt, laufen die Menschen weg. Sie werden eines Tages auch deswegen weglaufen, weil unsere sozialen Sicherungssysteme hier viel besser sind als die ihren. Wenn es eine Arbeitslgkeit gibt, und denen wird mit den jetzigen Sozialsätzen drüben geholfen, lockt hier für jeden Arbeitslosen das Dreifache. Im Verhältnis zur DDR ist das viel, um so mehr, als man bei freien Grenzen zurückfahren und zurücktauschen kann. Wir müssen um die Wanderung zu stoppen, auch die Sozialsysteme anheben, Schritt für Schritt, Jahr für Jahr. Bevor ich hier neue Wohnungen baue für Zuwanderer, macht es mehr Sinn, dort die Wohnungen so auszustatten, daß man da vernünftig wohnen kann. Man schafft mehr und hält die Menschen da, wo sie ihre Heimat haben. Und wenn ich sie hier habe, muß ich Sozialhilfe zahlen, muß hier das soziale Netz aufspannen, da ist es sinnvoller, daß es drüben verbessert wird, damit sie drüben bleiben können. Zahlen müssen wir so oder so.

Sie müssen jetzt wahrscheinlich viel übe Wiedervereinigung

reden. Haben Sie sich da schnell dran gewöhnt?

Ich rede überhaupt nicht über Wiedervereinigung. Es gibt keine Wiedervereinigung. Es gibt Einheit. Ich mußte mich nicht groß umstellen. Ich habe in Bremen gesprochen am 31.August 1889, und habe gesagt: Alle diejenigen, die bei uns von Wiedervereinigung reden und zur gleichen Zeit die Grenzfrage bei den Polen problematisieren, reden nationalistisch und wollen keine Wiedervereinigung. Nur derjenige, der die Grenzen in Europa akzeptiert, kriegt die Zustimmung de Nachbarn, daß wir zusammenwachsen können. Nicht im Sinne von Wiedervereinigung, sondern in einem deutschen Staatensystem, das noch herausgefunden werden muß. Ich gebe zu: Ich habe nicht gesehen, wie schenll das, was ich gesagt habe, ein Vierteljahr später sein würde. Ich habe nicht gesehen, daß die Ungarn die Grenze öffnen würden un damit praktisch auch das Brandenburger Tor.

Haben Sie ein bißchen Angst vor den nationalen Wellen zur deutschen Einheit?

Ich habe Angst, daß mit diesem verständlichen Wunsch der Verstand an der Garderobe abgegeben wird.

Die europäischen Perspektiven haben sich durch den Zerfall des Ostblock auch geändert. Ist vorstellbar, was in ein paar Jahren als Europa gelten kann?

Die europäische Gemeinschaft will bis 1992 kein neues Mitglied aufnehmen, sondern erst mal den gemeinsamen Markt machen. Österreich hat einen Aufnahmeantrag gestellt. Aber Österreich kann neu aufgenommen werden, wenn sich die Europäische Gemeinschaft bewußt versteht als nicht -militärisches Bündnis. Wenn die europäische Gemein

schaft sich dazu durchringt, in ihre künftige Konzeption nicht die Sicherheitskomponente aufzunehmen, würde die Frage Schweden, Finnland leichter werden. Das sind Staaten, die wegen ihrer ökonomischen Struktur wie die Schweiz heute oder morgen sofort eintreten könnten ohne irgendeine Belastung. Anders wäre es bei Jugoslawien, ganz anders bei Polen und Ungarn. Die Tschecheslowakei ist ähnlich wie die DDR in ihrer inneren Wirtschaftsstruktur, so miserabel sie auch ausgeformt sind, am ehemsten in der Lage, mizuziehen, weil sie in ihren Standards ungefähr so ist wie Portugal. Deswegen denken einige, so der Präsident der europäischen Gemeinschaft Delors, daran, als ersten Schritt aus diesem Block die DDR zu akzeptieren. Nicht ganz unfreiwillig, denn die DDR ist schon mit einem halben Bein über die Bundesrepublik in der EG. Ich könnte mir das für die Zeit nach 92 vorstellen. Dann kommt die Frage, wie organisieren sich die anderen Staaten außerhalb der Sowjetunion und außerhalb Albaniens. Da sage ich, der Schritt wird über die EFTA gehen. EFTA und EG schließen Kooperationsabkommen. Und dann wird die Sowjetunion da sein, die für die EG zu groß, aber für Kooperationsverhältnisse gut geeignet sein wird.

Wächst da eine ganz starke internationale sozialdemokratische Macht in Osteuropa heran?

Die DDR ist eine Ausnahme. In Polen hat es nie eine starke sozialdemokratische-Sozialistische Bewegung gegeben, die wird stärler werden als sie vor 1939 war, weil die gesellschaftlichen Strukturen sich geändert haben. In Polen wird eine christliche Agrarpartei domierende sein. Das wird in Rumänien so sein, falls es da zu einer Demokratisierung kommt, in Bulgarien herrscht eine ganz starke Tradition für eine Bauernpartei. In Ungarn ist es offener. Es kann sein, daß da die Sozialdemokraten an die 15 Prozent kommen. Tschecheslowakei ist ganz offen, in der Slowakei wird eine katholische Sozialbewegung entstehen, in der Tschechei selbst wird es eine beachtliche Sozialde

mokratie geben. Die Gesamtveränderungen werden nicht dazu führen, daß die Sozialdemokraten die neuen Gestalter sein werden.