DONNERNDES WASSER AM FELSEN

■ Die Niagara-Fälle - von beiden Seiten betrachtet

Noch 50 Meilen bis Niagara Falls. Die meisten Leute nähern sich dieser Konzentration aus Wasser und Romantik äußerst euphorisch. Was frischvermählten Europäern Venedig, ist US -Amerikanern Niagara. Die einen flittern, die anderen gucken in den Honigmond, aber beide brauchen in jedem Fall Gewässer. Vermutlich um ihre diesbezüglichen Illusionen nicht gleich auf Grund zu setzen. Aber auch wir, die wir keine Honeymooner sind, freuen uns auf dem Lake Ontario State Parkway auf eine Unterbrechung der Reise.

Unser Ziel ist nicht eigentlich Niagara Falls, sondern das westliche Ontario, den „Fels am Wasser“, wie es die Indianer nannten, doch da wir schon mal da sind, lassen wir uns diese anerkannt touristische Attraktion nicht entgehen. Wie die Flitterwöchner aus Arizona neben uns bestaunen wir die hinabtosenden Wassermassen. Wir sehen hier auf der US -amerikanischen Seite der Fälle, wie sich ein Teil des Niagara Rivers, der den Erie- mit dem Ontariosee verbindet, 50 Meter in die Tiefe stürzt, und sind beeindruckt. Durchfeuchtet von der überall umherwirbelnden Gischt fangen wir uns an zu langweilen, niemand wirft sich gefesselt im Faß die Fälle hinunter. So beobachten wir jeden Wassertropfen fotografisch festhaltenden Japaner durch die Fernglasinstallationen und belauschen weißhaarige Angehörige eines kalifornischen Goldwing Clubs. Auch sie scheinen es zu bedauern, daß nicht jemand mit einem Motorrad auf einem Seil das schäumende Gequirl überquert.

In Kürze werden sie eine der Einrichtungen des Vergnügungsparks besuchen, dessen Größe der des Naturwunders mittlerweile mehr als angemessen ist. Der Tourismus hat mit seinem Massenaufkommen die Flugzeug- und Chemieindustrie der Region in den Hintergrund gedrängt.

Wer die Fälle unmittelbar erleben will, das „Donnernde Wasser“, wie der indianische Name Niagara besagt, aus der Nähe hören möchte, fährt mit dem Fahrstuhl hinunter, hüllt sich in gelbes Ölzeug und stiefelt über glitschige Holzstege dem Brausen entgegen.

Wem dies zu ungemütlich erscheinen mag, fühlt sich vielleicht an Marilyn Monroe erinnert, die 1953 von Henry Hathaway und ihrem eifersüchtigen Filmehemann Joseph Cotton denselben Holzweg entlang gehetzt wurde und dafür vernichtende Kritiken bekam: „20th Century-Fox schert sich offenbar nicht darum, daß es nur sieben Weltwunder gibt, denn sie hat zwei weitere entdeckt und stellt diese in dem Film Niagara vor... Die Aussicht ist in beiden Fällen atemberaubend. Und wenn einer bemängeln wollte, daß das Melodram, in das die Wasserfälle und Missis Monroe verstrickt werden, doch wohl nicht gerade von der spektakulärsten Sorte ist, so hätte er da völlig recht“ (Weiler, A.H., New York Times).

Besucher der Fälle mit mehr Sinn für Extraordinäres und auch dem Kapital dafür, buchen eine Fahrt auf einem der vollgepackten kleinen Boote. Die „Maid of the Mist“ trägt die Abenteuerlustigen, diesmal in blauem Ölzeug, dicht an den fallenden Fluß heran.

Aber wir haben genug von den Wasserkapriolen und verlassen die Vereinigten Staaten auf der Rainbow Bridge. Auf der kanadischen Seite wider Erwarten noch größeres Spektakel. Dies liegt weder an der Penetranz der Kanadier noch an der auf ihrer Seite gewaltigeren Menge an Fluß, der sich hufeisenförmig hinabkippt. Der kanadische Dollar macht den Spaß preiswerter, und zudem befindet man sich im Ausland.

Der Souvenirhandel tobt, Spruch-T-shirts sind am begehrtesten: Ein „Just Married„-Paar läßt sich in einer Faßattrappe fotografieren, eine Gruppe Jugendlicher besteigt als „Niagara Barrel Team“ das weltgrößte Riesenrad, und auch die das ganze auf den Punkt bringenden Hemden „My folks went to Niagara and all they got me is this lousy t-shirt“ werden gerne gekauft.

In diesem Rummel wird die an den dichten farbigen Blasen erkennbare Verschmutzung des Niagara Rivers übersehen, die Kapitäne der Schaumgeborenen-Flotte drohten öffentlich mit Meuterei. Es half wenig, in keinem der Großen Seen durfte im letzten Sommer gebadet werden. Ein Imageverlust für das Kanada der unberührten Natur, deshalb fordern die Schilder an der Straße: „We all work for a better Ontario.“

Wir fahren am Niagara Fluß am bedeutenden Robert-Moses -Kraftwerk vorbei und kommen ins idyllische Niagara on the Lake, das es seiner herausgeputzten Fassade und der niedrigeren kanadischen Währung verdankt, daß hier viele historische US-Filme gedreht werden. Am Straßenrand finden sich weitere Hinweistafeln, die an die USA appellieren: „Join us against acid rain“, was der große US-amerikanische Bruder aber nicht tut. Wie überall funktionieren militärische Absprachen besser als ökologische. Trotzdem hatten die meisten Kanadier, mit denen wir sprachen, ein anderes Selbstverständnis. Sie waren schweinefroh, keine US -Amerikaner zu sein und viele ihrer Probleme nicht zu kennen, wie etwa den Rassismus.

Auf unserer Fahrt durch das westliche Ontario, mit den im milden Klima üppig gedeihenden Obstplantagen, stellt sich die Frage, wer die „Red Heaven„-Pfirsiche pflückt. Wie wir erfahren, würde kein Schulkind in den ursprünglich nach den Erntezeiten ausgerichteten Ferien dort arbeiten. Sie schinden sich lieber in einem der Amusement-Parks an den Fällen. Für die Erntesaison werden Jamaikaner mit geschickten Händen ins Land geholt. Sie bleiben auch lieber in ihren Quartieren unter sich und fliegen nach Beendigung ihres Pflückjobs zurück auf die Insel. Rassismus ist das nicht. Die Tuscarora-Indianer in ihrem Reservat am Niagara River werden ähnlich denken.

„Einerseits spielen wir gerne mit dem feuchten Element. Andererseits lassen wir der Natur auch einfach ihren Lauf.“ So wirbt das Fremdenverkehrsamt von Ontario und hofft, daß sich diese Gegensätze vereinen. Wir auch.

Maggie Thieme