Das Buhsssche Pendel

■ Uraufführung von „Nackt in Wien“ in Karl-Marx-Stadt

Die DDR-Provinz galt früher Komödianten aller Coleur als sichere Bank. Hier lauerte man schier auf jede noch so mickrige Pointe mit realsozialistischer Verweiskraft, hier schlug man sich vor Vergnügen auf die Schenkel, wo man in Berlin nur lässig die Achseln zuckte. Je grauer der Alltag, desto größer der Erwartungsdruck ans Theater, den Alltag zu kompensieren. Die Schauspielbühne als Kabarett, Lachen als Pferdekur, der Regisseur als Roßschlächter des guten Geschmacks. Jetzt scheint dies anders, denn gerade die Provinz kann für sich in Anspruch nehmen, die senile Politgroteske in den Farben der DDR nicht länger ertragen zu haben. Ein Volk hat seinen Witz auf den Straßen von Leipzig und Plauen zurückgewonnen, das Theater seine Funktion verloren, die Tristesse des Lebens selbst zu verlachen. Wer jetzt Komödien spielt, muß es besser machen. Werner Buhss, einer der Hoffnungsträger jüngerer DDR-Dramatik - und mit vielgespielten Stücken wie Die Festung, Nina, Nina, Tam Kartina, Pour le merite ein ausgewiesener Autor - hat sich dieser veränderten Situation gestellt und mit Nackt in Wien eine Komödie am Karl-Marx-Städter Schauspielhaus in eigener Regie zur Uraufführung gebracht.

Die Szene ist schnell entworfen, aber dabei muß es auch bleiben, denn Einzelheiten tragen nur zur Verwirrung bei. Im Wien des späten 18.Jahrhundert reproduziert sich ein morbides Regime durch Willkür, Schrecken und Angst. Ein übermächtiger Sicherheitsapparat, Staat im Staate, besetzt jeden erdenklichen Freiraum. Der Dresdener Kulturmanager Niekitzsch (Wolfgang Sörgel), noch einem alten Berufsethos verpflichtet, versucht wenigstens ab und zu in seinen Salonfesten dem provinziellen Muff zu entrinnen und eine Heimstätte für Toleranz und Pluralismus zu etablieren. Der dramaturgische Clou: In seinem Salon begegnen sich der Magier der Töne, Wolfgang Amadeus Mozart (Lutz Salzmann), und jener der Frauen, Chevalier Giacomo Casanova (Angelika Böttiger). Der eine hat die Musik seines Don Giovanni schon im Kopf, doch die existenzsichernde Lohnarbeit als Musiklehrer des tumben Thronfolgers tagtäglich vor Augen. Der andere, gealtert, verblaßt, ist auf der Suche nach einem letzten vitalen Spektakel, der Realisierung seiner Rache am kaiserlichen Regenten, der für den Weltruhm des Casanova nur verletzende Worte fand. Jeder hat das, was der andere braucht. Casanova wird fordernder Mäzen, Mozart das Werkzeug zur Rache. Gemeinsam fassen sie den Plan, bei einem Fest im Salon von Niekitzsch eine enthüllendes und Seine Majestät kompromittierendes Singspiel zu inszenieren. Jedoch der Plan mißlingt. Als Mozart zu seiner Enthüllungsarie anhebt, haben die willfährigen Schergen der Macht mit modernen Stasimethoden den „alten Mann“ Casanova längst auf die Reise ins Schweigen geschickt. Das Opfer ist nicht der Regent, sondern der zwischen die Fronten geratene Niekitzsch, der schließlich Selbstmord begeht.

Die dramaturgische Auflösung der verworrenen Story kommt unerwartet von draußen. Von der Hinterbühne des Karl-Marx -Städter Schauspielhauses dröhnt es von der Tonkonserve: Wir sind das Volk! Man braucht kein Theaterprophet zu sein, um zu konstatieren, daß dem Karl-Marx-Städter Ensemble und seinem Autor vor der Wende ein euphorisches Feed-Back garantiert gewesen wäre. Doch Stoff für eine Komödie ist das im Januar 1990 nun wahrlich nicht mehr, wohl eher ein fiktives Theaterpuzzle mit dem ihm selbst widersprechenden Pathos einer Parabel, die nur ein Ende kennt. Zu sehr ahnt man auf der einen Seite die labile Konstruktion bei dieser x -ten Auflage des Falles Mozart, der Fiktion des Zusammentreffens von Stasimentalität und Wiener Charme. Zu sehr spürt man auf der anderen den Dramaturgenschweiß beim Finden eines linearen Handlungsverlaufes.

Regisseur Buhss taucht den Großteil seiner Inszenierung in jene vermeintlich stickige Atmosphäre des 18.Jahrhunderts, um dann wieder kurzzeitig mit Hertie-Beuteln und Nationalhymnen ganz heutig wirken zu wollen. Als würde der Zuschauer nicht verstehen, daß Wien eher eine realsozialistische Metapher und der im Stück verspürbare Ekel vorm Provinziellen nicht von Thomas Bernhard, sondern von einem Ostberliner Autor ausgeht. Eklektizismus ohne Notwendigkeit, Parabel ohne Struktur.

Paul Kaiser