Atomic-City bei Tschernobyl

■ Leben in einer Retortenstadt mit vielen Vergünstigungen

Slawutitsch (afp/taz) - Mit doppelten Gehältern, großzügigen Prämien und zahlreichen anderen Vergünstigungen versuchen die Behörden in der Sowjetunion, die Belegschaft des Katastrophenreaktors von Tschernobyl beisammenzuhalten und neue Mitarbeiter zu gewinnen. In der Retortenstadt Slawutitsch, die nach dem Reaktorunfall in Rekordzeit aus dem Boden gestampft wurde, um die völlig verseuchte Wohnsiedlung Pripjat, leben heute 18.000 Menschen. Später sollen es 50.000 werden.

Die meisten der EinwohnerInnen gehören zur neuen Belegschaft des Atomkraftwerks Tschernobyl. Nach dem Reaktorbrand waren nur 500 Mitarbeiter der ehemaligen Belegschaft, ein Zehntel, bereit, weiterzuarbeiten. Die anderen ließen sich trotz eines umfangreichen „Bestechungs„ -Katalogs nicht zum Bleiben bewegen. Neben doppelten Gehältern zählen dazu vergleichsweise niedrige Mieten für die neuen Wohnungen, verbilligter Strom und großzügige Überstundenvergütungen. In Slawutitsch sind die Ladenregale wohlgefüllt, bestellte Fernseher und Möbel werden anstandslos ausgeliefert. Familien wird die Umsiedlung in die 60 Kilometer vom Unglücksreaktor gelegene Reißbrettstadt mit neuen Schulen und Kindergärten und einer modernst ausgestatteten Klinik versüßt. Außerdem müssen Kraftwerksmitarbeiter nicht zehn Jahre auf ihren Pensionsanspruch warten, sondern erhalten für jedes Jahr in Tschernobyl 18 Monate Rente.

Die Bewohner von Slawutitsch sind offenbar überzeugt, daß die Strahlenbelastung in ihrer Stadt ihre Gesundheit nicht schädigt. Die Radioaktivität wird kontinuierlich mit Geigerzählern überwacht. Erhöhte Werte werden vor allem im Sommer gemessen, wenn der Wind Staubpartikel aus Richtung Tschernobyl herüberbläst. Die Kraftwerksangestellten werden jährlich in der Klinik untersucht. Auf dem Weg zur Arbeit wechseln sie den Zug, sobald sie in die 30-Kilometer -Risikozone einfahren. Gleich dreimal müssen sie sich umziehen: Wenn sie das Atomkraftwerk verlassen, wenn sie den kraftwerkseigenen Bahnhof verlassen und schließlich, wenn sie den Bahnhof von Slawutitsch verlassen. Alle diese Stationen sind mit Kontrollschranken und Dekontaminationsduschen ausgerüstet.