US-Richter: Betteln gilt als „freie Rede“

Bettelverbot der New Yorker Transportbehörde wurde zum verfassungswidrigen Verstoß gegen die Redefreiheit erklärt  ■  Aus Washington Rolf Paasch

Das hatte sich die New Yorker Transportbehörde so gedacht: Sie wollte das Betteln im Labyrinth der Untergrund-Bahn verbieten, um den Szenen a la Dickens in der Unterwelt der 10 Millionen-Stadt ein Ende zu bereiten. Dort behinderten obdachlose Almosensucher mit ihren dahingehaltenen Styropor -Bechern aus dem nächsten Fast-food-Restaurant zunehmend das hastige Leben der New Yorker. Doch zur Überraschung aller fanden zwei Penner aus dem Heer der Hundertausenden von Obdachlosen das, was in den USA die Staatsbürgerschaft erst vollständig und das Leben interessant werden lässt: einen Rechtsanwalt. Jener klagte gegen die Transportbehörde und siehe da, die Stimmen der Armen fanden juristisches Gehör.

Das Bettelverbot in der New Yorker Metro sei verfassungswidrig, urteilte Richter Sand vom einflußreichen Bundesdistriktgericht in Manhattan. Die blosse Frage nach dem „Nickel“ sei durch die im ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung verankerte Redefreiheit garantiert.

Das Urteil schlug hohe Wellen und veranlaßte die ehrwürdige 'New York Times‘ gar zu einem Leitartikel, der sorgfältig die Rechte der U-Bahn-Fahrgäste mit den Freiheitsrechten der Unterpriviligierten abwog. Dabei scheint die Logik von Richter Sands durchaus überzeugend. Wenn das First Amendment dem Staatsoberhaupt die hemmungslose Zurschaustellung intellektueller Armut gestattet, dann sollte doch wohl auch

-beim monatlichen Satz von 45 Dollar im Obdachlosenasyl der Ausdruck wirklicher Armut erlaubt sein. „Der wirkliche Test für das Einstehen einer Gesellschaft zu ihren verfassungsmässigen Grundsätzen, so Richter Sand, „ist das Ausmass, in dem die Rechte auch solcher Mitbürger anerkannt werden, die zu den Armen, Machtlosen und Unwillkommenen gehören.“ Unwillkommen ist der Transportbehörde jetzt auch Richter Sands Urteil. Sie wird in die Berufung gehen und zumindest selektive Bettlervertreibungen mit dem Sicherheitsargument durchzusetzen versuchen. Der Streit unter Amerikas Verfassungsrechtlern darüber, ob der Akt des Bettelns nun unter die ungeschützte Kategorie des „Sichbenehmens“ oder die der freien Rede fällt, hat mit Richter Sands fortschrittlichem Urteil wohl gerade erst begonnen.