Keine Zeit für das andere Deutschland

Nachtrag zur Tutzinger Tagung: Neue Antworten auf die Deutsche Frage / Viel Prinzipienstreit und wenig Geduld beim Zuhören kennzeichneten die Debatte  ■  Aus Tutzing Klaus Hartung

Eine Tagung der leisen Töne und der lauten Töne; und die Leisen, die Vertreter der DDR-Opposition, waren am Schluß noch leiser. Aber wen wundert das, wenn sie zudem von Günter Grass und anderen lautstark aufgefordert wurden, doch bittesehr „nicht als Bittsteller aufzutreten“.

Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums, Berliner Wissenschaftler mit schnellem Witz und politischer Wachheit, begann mit einer Elegie des Untergangs oder des Dammbruchs: Die „Hütte“ der Opposition sei weggerissen. „Wir schwimmen mit, versuchen den Kopf herauszuhalten.“ Der „Retter von Leipzig“, Gewandhauskapellmeister Masur: „Man kommt mit dem Träumen nicht mehr nach.“ Die Selbstdiagnose war von bitterer Klarheit: „Aufgeregtheit und extremer Autismus ist unser Zustand“ (Jens Reich).

Vor einem „Augenblick der Gefahr“, vor dem gänzlich unverarbeiteten Schock der DDR-Bevölkerung, die feststellt, daß „40 Jahre Arbeit zum Bankrott geführt“ haben, warnt der Gewandhauskapellmeister Masur. „Ungeduld, Angst und Rachsucht“ beherrsche die DDR, sagte Ludwig Mehlhorn von „Demokratie Jetzt“. Seine These: „Wer heute Demokratie vor Einheit sagt, der stellt sich ins realpolitische Abseits“. Zudem: „Wir haben keine Demokratie, wir haben nur (!) eine Diktatur gestürzt.“ Und überall blitzte er durch: der Mangel an Zeit für eine deutsch-deutsche Utopie - dies war das geheime Thema dieser Tagung am Starnberger See, dieser Suche nach „neuen Antworten der deutschen Frage“.

Günter de Bryun warnte gar direkt die westdeutsche Linke, die Zeit, die man nicht hat, zu verspielen und die DDR als Bastion gesellschaftspolitischer Utopien zu definieren. „Die DDR ist kein Nationalpark für gesellschaftspolitische Experimente.“

Ibrahim Böhme legitimierte die SPD-Ost und ihr Manöver in Sachen Vorverlegung des Wahltermins aus dieser Zeitnot: Er sah die „Gefahr des Zerfließens von Ordnungskraft.“ Eine ganz andere Gefahr: Die DDR-Oppositionellen definierten sich selbst als Amateurpolitiker oder, wie der Grüne Becher sagte, sie haben die Hoffnung, „hoffentlich gewinnt jemand die Wahl, und hoffentlich nicht wir.“

Das waren keine Reden „eingestäubt vom Bild der Trauer“, wie es Antje Vollmer monierte. Der DDR-Beitrag war schonungsloser Realismus, ein wesentlich unbelasteter Umgang mit der deutschen Einheit, und er thematisierte auch die allerwichtigste Frage: Wie kann die Zeit erkämpft werden, die man braucht, damit es keine „forcierte Einheit“ (de Bryun) gibt, keinen Anschluß?

Nicht zufällig brachten die DDR-Sprecher das Wort der „Mitgift“ für die Vereinigung ein, mit der Frage, wie den bundesdeutschen „Mitgiftjägern“ entgegengearbeitet werden kann. Die Mitgift? Für Masur waren es die revolutionären Ideen von 1989 und die „Liebesumarmung beim Öffnen der Grenze“.

Masur und die anderen Oppositionsvertreter warfen der SPD -Ost vor, die Einigung der Opposition und damit die Einigung des Volkes verraten zu haben. Das durch die SPD oktroyierte Parteiensystem zerstöre die politische Vielfalt in der DDR. Ibrahim Böhme versuchte sich ehrlicherweise zu rechtfertigen, zerissen zwischen der angesonnenen Rolle des künftigen Staatsmannes und dem einstigen Mitkämpfer. Da aber setzten die westlichen Unterstützer, Norbert Gansel und Johanno Strasser, rüde und mit Wucht ein. Die schöne, romantische Zeit der Revolution sei eben vorbei. Wehmut geschenkt.

Aus dem reichen Erfahrungsschatz seiner Juso-Zeit predigte Strasser das Recht auf politische Gaunerei. Mit der Trauer über das Ende der revolutionären Zeit werde nur ein antipolitischer Effekt bewirkt. Mit dieser Realismuspredigt wurde die Frage nach der politischen Moral abgekanzelt.

Vollends ging die Stimme der DDR unter, als es dann um die große Deutschlandpolitik ging. Diese Auseinandersetzung hatten die Initiatoren der Tagung, Antje Volmer und Günter Grass gewollt. Antje Vollmer hatte eine Abrechnung mit den „alten Männern“ vorangestellt, die entstehende neue Republik noch „über den Leisten ihrer alten Träume geschlagen“. Ein „alter Mann“, Willy Brandt, ließ diesen Vorwurf abgleiten. Er argumentierte aus seiner Lebensgeschichte. Nicht noch einmal soll die „Vertretung nationaler Fragen in die falschen Hände geraten.“ Für ihn ist die Frage „der Einheit gelaufen“. Es sei jetzt die Frage der „Modalitäten“. Im übrigen: Für ihn, als Politiker der deutschen Arbeiterbewegung, sei die Einheit richtig. Er erlebe eine Rückkehr der Sozialdemokratie zu ihren Stammländern Thüringen und Sachsen.

Antje Vollmer griff Brandt voller Enttäuschung an: „Sie standen für uns schon in den Sternen. Nun machen Sie Druck.“ Brandt konnte abwehren: Wenn er in der DDR rede, stehe vielmehr er in der Gefahr, „überrollt zu werden“. Antje Vollmers richtige Frage: Wieviel Zeit hat man, wieviel Zeit muß man haben müssen? Aber wie dieser Zeitgewinn erkämpft werden kann, diese Frage konnte sie nicht beantworten, und das lag nicht an den „alten Männern“.

Es gab in Tutzing eine undiskutierte Entgegensetzung von Politikern des Zeitdruckes und von linken Anti -Nationalisten, die vor den 80 Millionen EinwohnerInnen und einer neuen deutschen Hegemonie warnten. Natürlich steht bei der deutsch-deutschen Vereinigung das Verhältnis von Moral und Politik auf der Tagesordnung. Aber moralisieren, abstrakter Anti-Nationalismus verhindert diesen Streit.

Das gilt auch für den ehrenwerten Versuch von Grass, gegen die Zeit anzukämpfen. Seine Warnung vor dem deutschen Zentralstaat ist berechtigt, auch wenn eine unvermittelte politische Argumentation mit Auschwitz kaum wirksam eingreifen wird.

Wenig erstaunlich darum, daß die spannenden Momente in der Rede des anderen „alten Mannes“, Außenminister Genscher, in Tutzing nicht diskutiert wurden. Er bot ein Konzept des Zeitgewinns: die politische Verabschiedung der brisanten Einheitsfrage durch einen deutsch-deutschen Vertrag über den „Weg zur Einheit in Europa“. Außerdem will Genscher die Einigungsdynamik als Treibsatz zur europäischen Einigung und zur politischen Entwertung der Militärbündnisse nützen.

Nicht nur das wurde nicht diskutiert, sondern auch viele der ganz praktischen Konzepte. Die Frage der Währungsunion, von dem DDR-Ökonom Schließer brillant behandelt, wurde von Ralph Fücks mit der Belehrung über den Primat der Ökologie gegenüber Ökonomie schlecht verallgemeinert.

Joschka Fischer, im Stile eines Matadors grüner Parteitage, fragte provozierend: „Was kostet denn die Wiedervereinigung?“ Als ob die Nicht-Vereinigung billiger kommt. Alle drängenden Fragen der Soforthilfe, eines Lastenausgleiches, der Vereinigung von unten blieben zu sehr im Prinzipiellen. Das, was Jens Reich sehr konkret einklagte, verhallte am Starnberger See: Es werde der Eindruck erweckt, man habe es bei der DDR mit einem „Partner im halluzinatorischen Rausch zu tun, der nicht wild gemacht werden darf. Welche Zeitvorgaben, welche Umstände bei der Einheit also? Diese Fragen müßten endlich im Klartext behandelt werden.“