Finnland - warum eigentlich kein Modell?

„Wir haben in Europa drei Arten außenpolitischer Verbindungen gehabt. Die mit Osteuropa, die mit Westeuropa und die mit Finnland. Die Neutralität Finnlands wurde im Westen früher abschätzig mit dem Begriff 'Finnlandisierung‘ belegt. Jetzt bewegen wir uns auf ein geeintes Europa zu. Viele meinen, daß das Verhältnis zwischen Finnland und der Sowjetunion ein Modell hierbei werden könnte“, so Gorbatschow.

Zu den „vielen“, von denen Michail Gorbatschow bei seinem Staatsbesuch im Oktober letzten Jahres in Finnland sprach, gehörte er auch selbst. Dies machte er deutlich in seinen Ausführungen zur „neuen Logik“, die die Beziehungen in der Mitte Europas prägen sollten und für die der „Sonderfall Finnland“ zum Normalfall werden könnte. Im Oktober - lang ist es her - war vor allem von Ungarn und Polen die Rede: Finnland, ein von Gorbatschow „abgesegnetes“ Modell für die Beziehungen der Sowjetunion zu ihren Nachbarländern.

Plötzlich, damals noch ganz außerhalb des Denkbaren, auch ein Modell für einen Deutschen Bund?

Der Vertrag, der am 6. April 1948 in Moskau unterzeichnet wurde, trägt den genauen Namen „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“. Ein näherer Blick auf ihn zeigt, daß er nicht mit den Beistandsverträgen vergleichbar ist, die die Sowjetunion in der gleichen Zeit den osteuropäischen Staaten aufdrängte. Mit diesem Vertrag gelang es den FinnInnen vielmehr, das von ihnen anerkannte Sicherheitsinteresse der Sowjetunion mit dem - damals größtmöglichen Maß an Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit für ihr Land zu vereinbaren.

Auch wenn es Stalin war, der nur sechs Wochen vor Vertragsschluß den finnischen Präsidenten fast ultimativ aufforderte, als letzter in der Reihe der sowjetischen Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegner einen Beistandsvertrag mit der Sowjetunion abzuschließen - das Werk Stalins war er nicht. Die Initiative zu diesem gegen einen „möglichen Angriff durch Deutschland“ gerichteten Vertrag kam aus dem Osten, der Inhalt wurde ganz wesentlich von finnischer Seite bestimmt. Der Abschluß erfolge „mit Rücksicht auf das finnische Bestreben, außerhalb der Interessenkonflikte der Großmächte zu bleiben“.

Nach einem bis heute noch nicht restlos aufgeklärten Grenzwischenfall ließ Stalin am 30. November 1939 Truppen nach Finnland einmarschieren. Den verbissen geführten und blutigen „Winterkrieg“ konnte Finnland letztendlich nicht gewinnen. In einem „Friedensvertrag“ mußte das Land wichtige Gebiete an die Sowjetunion abtreten. Im Sog des Überfalls der Nazis auf die Sowjetunion 1942 führte Finnland seinen eigenen Fortsetzungskrieg. Nach dem Waffenstillstand 1944 mußte es weitere Gebietsabtretungen und eine Begrenzung der Truppen hinnehmen, aber keine Besetzung durch die Sieger.

„Was uns Amerikaner verdutzt“, so US-Präsident Kennedy 1961 in einem Gespräch mit dem finnischen UN-Botschafter Jakobson, „ist, warum die Sowjetunion Finnland erlaubt hat, selbständig zu bleiben.“ Für Jakobson liegt in dieser Frage ein Musterbeispiel für falsche Vorstellungen des Westens, nämlich daß „nach dem natürlichen Lauf der Dinge die Sowjetunion mit Sicherheit den Wunsch gehabt haben muß, die finnische Unabhängigkeit auszulöschen; und daß - wenn die Sowjets darauf verzichtet haben - der Grund einzig und allein in einem rätselhaften Kalkül der sowjetischen Führung liegen muß - aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Ziel, den Westen zu verwirren und zu täuschen“.

Zweierlei übersieht nach Jakobson eine derartige Betrachtungsweise. Zum einen werde ein Land vor allem dann zum Spielball mächtiger Nachbarn, wenn es selbst zu wenig für die Bewahrung seiner Selbständigkeit tue. Zum anderen müsse das legitime Interesse der Sowjetunion an sicheren Grenzen berücksichtigt werden. Ein defensives strategisches Interesse also, für Jakobson das vorrangige Interesse der Sowjetunion. Könne man nach den bitteren beidseitigen Erfahrungen der Vergangenheit mit einer strikten Neutralität des Landes dieses Sicherheitsbedürfnis befriedigen, sichere man damit auch die zukünftige Unabhängigkeit. Neutralität wäre hier also nicht das Aufgeben der Unabhängigkeit, sondern gerade deren Grundvoraussetzung und Absicherung.

Gab es dafür einen Preis? Wirtschaftlich, gesellschaftspolitisch, verfassungsrechtlich war keiner zu zahlen. Finnland funktioniert wie jede andere westliche Demokratie. Der durchschnittliche Lebensstandard bewegt sich auf dem hohen skandinavischen Niveau, mit ähnlicher Verteilung von Reichtum und Armut wie bei den nordischen Nachbarn. Eher haben die Auswüchse der US-amerikanischen „Kultur“ in Finnland noch etwas stärker zugeschlagen.

Wenn es darum ging, sich kritisch mit dem großen Nachbarn im Osten auseinanderzusetzen, hat es in der Vergangenheit oft geradezu groteske Hemmungen und ungeschriebene Verbote gegeben: etwas, was aber nichts über Neutralitätspolitik an sich aussagt, sondern vor allem mit dem Selbstverständnis der meisten finnischen JournalistInnen und ihrem Verhältnis zur politischen Führung zu tun hat.

Es gab auch politische Krisen, Zeiten, in denen unterschiedliche Interpretationen des Freundschaftsvertrages nicht nur von wissenschaftlichem Interessse waren. Die „Notenkrise“ 1961, als Finnland und die Sowjetunion die Voraus- setzungen für die Aufnahme von Konsultationen aufgrund des Beistandsvertrags verschieden ein schätzten - und Finnland sich durchsetzte.

Über die Beibehaltung der Neutralitätspolitik gibt es in Finnland schon seit längerem keine ernsthafte Diskussion mehr. Wohl aber darüber, ob der Freundschafts- und Beistandsvertrag mit der Sowjetunion in allen Punkten noch zeitgemäß ist. „Die Frage, ob Finnland ein Modell für andere Länder sein könnte, darf auch nicht bei dem historischen Beistandsvertrag haltmachen, sondern bei dem, was sich in den vier Jahrzehnten seither entwickelt hat“, ist daher auch die Einschätzung von Osmo Apunen, Professor an der Universität Tampere. Er sieht ansonsten durchaus einen Modellcharakter der finnischen Neutralitätspolitik für weitere Staaten in der Mitte Europas, „wegen des absoluten Respekts vor der politischen und sozialen Selbstbestimmung der Völker“.

Es ist eine Selbstverständlichkeit: Die finnische Neutralität hat sich aus der eigenen Geschichte und den eigenen Erfahrungen des Landes entwickelt. Sie kann insoweit nicht verallgemeinert werden. Finnland war nie Teil des „Ostblocks“, nie Mitglied eines der Militärbündnisse, mußte sich aus keiner solchen Verbindung lösen. Wenn Gorbatschow den Modellcharakter der finnischen Neutralität hervorhebt, so meint er offensichtlich die übergreifende Idee zwischenstaatlicher Beziehungen, wie sie sich zwischen Finnland und seiner politischen Umwelt entwickelt hat.

„Die Welt um uns“, so Finnlands Präsident Koivisto zu Gorbatschow, „hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Nicht aber die Grundlage der Beziehungen zwischen unseren Ländern. Dies ist kein Ausdruck von Stagnation, sondern davon, daß sich in unseren Beziehungen schon vor Jahrzehnten der Durchbruch vollzogen hat, der sich jetzt allgemeiner in Europa vollzieht.“ Der Sonderfall Finnland auf dem Weg zum Normalfall?

Reinhard Wolff