„Sonst bleiben wir doch immer Provinz...“

■ Ein Besuch in Frankfurt an der Oder: Eine Stadt mit großer Tradition, viel Provinzmief - und der Hoffnung auf Tourismus Den ersten Ausflugsommer nach der Wende will man mit improvisierten Frittenbuden und mit West-Würsten überstehen

Die Straßen der Stadt sind leer - wen wundert's an diesem grauen Regentag, an dem dunkle Regenwolken von einem starken Weststurm über den Himmel gejagt werden. Sie seien auch sonst leer, erzählt einer, der es wissen muß, später, denn die Bewohner der Stadt nutzten jede freie Stunde, um in die verlockende Insel des Kapitalismus zu fahren, die nur achtzig Kilometer weiter westlich liegt. „Dort, in West -Berlin, drücken sie sich die Nasen an den Schaufenstern platt“, meint der auskunftsfreudige Magistratsangestellte der Stadt Frankfurt an der Oder. Viele seien weggegangen, um im Westen Geld zu verdienen, gerade im Dienstleistungssektor. „Unsere Gesundheitsversorgung ist kurz vor dem Zusammenbruch - wie soll das nur weitergehen...“. Für die unbedarfte West-Besucherin sind diese Lücken von außen nicht zu erkennen. Wie kurz die Entfernung von Berlin nach Frankfurt und damit zur polnischen Grenze ist, spielt im durchschnittlichen Alltag eines Westberliners kaum eine Rolle - oder besser gesagt, spielte. Mit der neuen Reisefreiheit wird im Umland von Berlin schon zu Ostern mit einer gewaltigen Tourismuswelle gerechnet, und der Bezirk Frankfurt zählt zu diesem Umland. Die Bürokratie hat bereits reagiert, sind doch Vertreter aus Frankfurt und den Bezirken Cottbus und Potsdam im gemeinsamen Ost-West-Berliner Regionalausschuß vertreten. Der Zentrale Platz

Gegenüber den wenigen Resten des historischen Frankfurt, im Stadtzentrum - darunter der im vergangenen Jahrhundert errichtete Prachtbau des Rats des Bezirks - erstreckt sich die typische realsozialistische Betonwüste mit schäbigen Hochhäusern, einem Einkaufszentrum und dem einzigen größeren Hotel der Stadt. „Zentraler Platz“ wurde die zubetonierte Fläche schlicht genannt, an sie schließt sich die Karl-Marx -Straße, die Einkaufstraße der Frankfurter an. Hier sind zumindest Spuren behutsamer Stadterneuerung zu erkennen. Auf dem Zentralen Platz findet gerade eine weitere Protestkundgebung statt, die ungleich mehr Menschen zu interessieren scheint, obwohl man auf der ausgeräumten Fläche vom Wind fast weggeblasen zu werden droht. Vor dem Parteisitz der SED demonstrieren sportbegeisterte Jugendliche dafür, endlich mehr Trainer zu erhalten, teilweise lautstark unterstützt von ihren Eltern und anderen Erwachsenen. „Sonst bleiben wir doch immer Provinz“, gibt ein Schüler als Begründung für die Kundgebung an. Besuch im Rathaus

Das Rathaus wurde in den letzten Jahren aufwendig renoviert und ist der ganze Stolz derer, die dort arbeiten. Ein Angestellter, der die westlichen Journalisten in Empfang nehmen soll, und die Pförtnersfrau zeigen mir die Ratsräume. Obwohl das verboten ist, zeigen sie mir auch ihr Allerheiligstes, die Trauräume, wo im Ambiente von sozialistischem Neobarock die Bünde fürs Leben geschlossen werden - die aber „leider meistens nicht lang halten“.

Das übrige Stadtbild von Frankfurt zeigt deutlich die Spuren, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat allerdings wurde durch rege Bautätigkeit wieder ein einigermaßen geschlossenes Stadtbild hergestellt. Während der letzten Kriegswochen im Frühjahr 1945 hatte es Frankfurt nicht zuletzt dem Durchhaltebefehl aus Berlin zu verdanken, daß es zu 70 Prozent zerstört wurde.

Frankfurt hat heute knapp 90.000 Einwohner, Tendenz sinkend, wie überall in der DDR. Großter Arbeitgeber ist eine Bauelemetefabrik für Mikroelektronik. Eine wichtige Branche war bis vor der Wende die Bauindustrie. Nach dem Krieg wurde die Schwerindustrie an Frankfurt vorbei in Eisenhüttenstadt angesiedelt, ein weiterer wichtiger Wirtschaftszweig des Bezirks, die Petrochemie, in Schwedt. Heute ist dafür hier die Luft etwas besser als in vielen anderen Städten. Hoffnung auf Tourismus

Frankfurt setzt jetzt auf Tourismus, liegt es doch in einem Bezirk, der mit über 500 Seen und viel Wald landschaftlich einiges zu bieten hat. Für die landschaftsentwöhnten Westberliner wird der gesamte Bezirk zum Naherholungsgebiet, er ist allerdings auf den von Experten prognostizierten Ansturm kaum vorbereitet. Es fehlt, wie andernorts auch, praktisch an allem, an gastronomischen Einrichtungen, an Hotels und jeglichen Freizeitangeboten, die für den konsumgewohnten Westler die Erholung erst erträglich machen. Viele traditionelle Erholungsgebiete liegen im Bezirk, so etwa der Scharmützelsee, die Gegend um den Werbellin-See, den die abgehalfterte DDR-Nomenklatura als Jagdgründe nutzte, die Märkische Schweiz und der Helenensee. Überall dort habe es auch bisher Tourismus gegeben, so der Magistrats-Architekt Möller, aber eben in den bescheidenen DDR-üblichen Ausmaßen.

Das größte Problem für den Bezirk wird es sein, Übernachtungsmöglichkeiten für Kurzaufenthalte am Wochenende bereitzustellen. Nur 900 Betten stehen im Bezirk Frankfurt augenblicklich zur Verfügung, davon allein 550 in der Stadt Frankfurt. Die Hinweise auf private Zimmervermittlung des Berliner Senats seien dankbar angenommen worden, berichtet Stadtplaner Möller. Man denke nun daran, ein Programm mit den Bürgermeistern der Kommunen auszuarbeiten. Auch sei es geplant, „bestimmte Objekte ihrer ursprünglichen Bestimmung zuzuführen“.

Im Klartext heißt das, daß ehemalige Gasthäuser, die unter der SED-Herrschaft oft für deren Zwecke umfunktioniert wurden, wieder als Gasthäuser genutzt werden sollen. Infrastruktur mit Imbißcontainern

Eine ausreichende kulinarische Bewirtung ist auf die Schnelle ebensowenig zu bewerkstelligen. 1.100 Gaststätten gibt es im Bezirk mit 62.000 Innenplätzen und 14.000 Außenplätzen. Was tun, um die hungrigen Berliner zu verköstigen? Ganz einfach: Man will „Imbißcontainer“ aufstellen, auf gut berlinerisch Frittenbuden, die von DDR -Arbeitskräften betrieben - aber mit West-Waren beliefert werden sollen.

Die Bürger des Bezirks selbst sind besorgt, daß ihre ohnehin schlechte Versorgungslage noch angespannter wird, wenn die kaufkräftigen Berliner gleich Heuschreckenschwärmen in die Provinz einfallen. „Viele haben Angst, daß ihnen etwas weggenommen wird“, beschreibt die Pförtnersfrau im Rathaus die Stimmung in der Bevölkerung. „Ein Volk auf gepackten Koffern wird nicht mehr sehr geduldig sein“, prognostiziert ein Kollege. „Wenn wir jetzt dann nicht mal mehr was zu futtern haben, dann gehen auch noch die letzten...“

Kordula Doerfler

Je nach Ausgangspunkt in Berlin beträgt die Entfernung nach Frankfurt rund 50 Kilometer.