Ein Hauch vom Paradies

■ Uwe Timms Rom-Skizzen „Vogel, friß die Feige nicht“

Im Winter 1946 sah er seine erste Orange. Sie war so fremd, daß er sofort in die bittere Schale biß. Anfang der achtziger Jahre wächst vor seinem Fenster ein Orangenbaum, dessen Früchte unbeachtet herunterfallen. Uwe Timm hat seine Wohnung ausgemistet und ist mit der Familie nach Rom gezogen. Die Frauengeschichten des Kürschnergesellen, die Kriegserzählungen des Vaters, die Bilder, die Schlager, die Brüste von Sophia Loren, so exotische Worte wie Parmesan und Cappuccino und schließlich Rom im Film - Italien war für den Heranwachsenden das, was die Tage heller und die Luft leichter machte. Für den Studenten wurde es Ende der sechziger Jahre zur Heimat seiner politischen Utopie. Ein gutes Jahrzehnt später, als viele Hoffnungen abgeschliffen, bei den Kämpfen des Alltags versickert oder in Szenegewäsch wegpoliert waren, wird Rom, die alte neue Stadt, zum Ort der Archäologie dieser Wünsche. Sie ist die Fremde, in der Timm „sich als Fremder begegnen“, seiner eigenen Geschichte vergewissern und für die Zukunft neu orientieren kann.

Vogel, friß die Feige nicht (eine Hommage an Gramsci und die Qualität italienischer Feigen) ist der Versuch einer politischen und ästhetischen Ortsbestimmung, die sich der kritischen Position von einst verpflichtet weiß, das Scheitern ihrer gesellschaftspolitischen Forderungen aber nicht verdrängen möchte. Da hat einer die Energie, aus der resignativen Saturiertheit, die ihn umgibt, aufzubrechen und im Paradies seiner Jugendträume den utopischen Horizont für einen Neuanfang zu suchen. Das heißt für Timm vor allem, daß das Subjekt und die vielfältigen Widersprüche seines Bewußtseins zum Filter seiner Wahrnehmung und zum Hebel für Veränderungen werden.

Diese Einsicht gewinnt Gestalt in der Struktur des Buches. Die Bürokratie, das Autochaos, die Unmöglichkeit einer Kontoeröffnung, die neofaschistischen Parolen, die Arbeiterproteste, die Berührungen und die Eßwaren, die Gebäude und Plätze, die Choreographie der Bewegungen, die Freundlichkeit gegenbüber Kindern, der blaue Himmel, die Düfte... all die tausend Partikel der römischen Gegenwart werden in Geschichten, Anekdoten und filmischen Bildern festgehalten. Timm zeigt sich als „Explorateur des abenteuerlichen Alltags“. In der Buntheit der Phänomene sucht er nach dem Webmuster des Alltagsbewußtseins, getreu Gramscis Diktum, daß die „Lebens- und Denkweisen, die Bedürfnisse, die Moral, die Sitten die Festungsanlagen“ des kapitalistischen Systems seien.

Die Ästhetik der Momentaufnahme und das Bedeutendmachen des Details erinnern an das Rom-Buch Rolf Dieter Brinkmanns; doch ist dieser formalen Nähe ein so dramatischer Gegensatz der Perspektiven mitgegeben, daß man Timms Buch als Versuch einer utopischeren Antwort lesen könnte. Timm sieht in Rom nie die Nekropolis der abendländischen Zivilisation. Seine Wahrnehmung ist von seiner dezidiert politischen Position getragen: von den protestierenden Arbeitern über die Geschichte der Spaghetti bis zum Tastsinn, überall sieht er Elemente emanzipatorischer Geschichte und ihrer Gegenkräfte. Rom, das ist weniger die Metropole der Antike und das Reiseziel der deutschen Klassiker als die Hauptstadt des italienischen Faschismus und ein Zentrum politischen Bewußtseins. Den englischen Friedhof besucht er, weil Gramsci dort liegt, nicht wegen Goethes Sohn und den Humboldts. Nicht der „antike Schutt“ tritt ins Blickfeld, sondern die Überreste faschistischer Bauherrlichkeit.

In diese Topographie jüngster Geschichte holt ein dichtes Netz assoziativer Verknüpfungen die eigene Vergangenheit hinein. Im Hin und Her zwischen Deutschland und Italien, Vergangenheit und Gegenwart erprobt Timm, was er in drei nachfolgenden Essays zu Antonio Gramsci, Caravaggio und Heiner Kipphardt als kulturpolitische Ästhetik skizziert: Literatur als Ethnologie der verdrängten Wünsche, als „sinnliche Aufklärung“ und lustvolles Querdenken. Wenn in der eigenen Umsetzung dabei manches sehr schematisch und starr gerät, mag der Leser in diesem ersten Versuch darüber hinwegsehen. Seinen Kindern zumindest hat der Autor versprochen, „biegsamer zu werden“.

Gerhard Mack

Uwe Timm: Vogel, friß die Feige nicht . Römische Aufzeichnungen. Köln 1989, Kiepenheuer & Witsch, 29,80 DM.