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In den Bärenwinkeln ist die Presse unter Druck

Der alternativen Presse mangelt's an Kopeken / Noch immer kann sie nicht über die Post und an Kiosken vertrieben werden  ■  Von Barbara Kerneck

„Bei uns in den russischen Bärenwinkeln“, vermerkte der Redakteur eines informellen Blättchens aus dem Ural nach langen Querelen, „ist das Problem erst einmal nicht gewerkschaftlicher Schutz. Wir müssen um unser Leben kämpfen und zwar ganz buchstäblich. Täglich müssen wir befürchten, daß man unsere Verteiler verhaftet oder zu Krüppeln schlägt und daß ihnen Provokateure ganze Auflagen auf offener Straße in Brand setzen oder sogar die Geldscheine anzünden, die sie in der Kasse haben.“

Schauplatz dieser Erklärung war der „Kongreß für eine Gewerkschaft unabhängiger Journalisten“ der UdSSR in Tallinn, der Hauptstadt Estlands. „Das Wort unabhängig“, definierte einer der 150 Teilnehmer bitter, „bedeutet in erster Linie unabhängig von rechtlichen Garantien.“ Etwa 150 Vertreter informeller Zeitungen und Zeitschriften hatten sich hier im Dezember letzten Jahres getroffen, um ihre Lage zu beraten. Redakteure humanitärer und religiöser Gesinnung waren ebenso vertreten wie Herausgeber von Ökologieblättern und self-made-Journalisten, die einfach wollen, „daß die Sowjets nur noch sich selbst vertreten“.

Nach eigenen Schätzungen repräsentierten die Anwesenden etwa ein Fünftel des weltanschaulichen Spektrums der sowjetischen informellen Presse, die es gegenwärtig auf etwa viertausend Titel von Periodika bringt.

In den baltischen Sowjetrepubliken gibt es im Windschutz der Volksfronten in diesem Rahmen schon auflagenstarke Zeitungen mit solider ökonomischer Basis. Sie waren hier allerdings nicht vertreten. Und die Delegation der florierenden unabhängigen georgischen Kaukasusnachrichtenagentur 'Mazne‘ hielt sich vornehm auf „Beobachterposten“, ebenso wie das entsprechende lettische Unternehmen.

„Sehen sie einmal, wie imperial die sich gehaben!“ zischte mir dessen Vertreterin glutvoll zu: „Sie verfügen einfach über Lettland als Operationsbasis!“ Mit „die“ waren die Delegierten im Saal gemeint, Russen, Weißrussen und Ukrainer aus Städten mit klangvollen Namen wie Perm, Swerdlowsk, Vitebsk und Irkutsk. Vorwiegend Männer in offenbar nicht knitterfreien, altmodisch eng geschnittenen Anzügen.

Viele mit Rauschebärten, langen Haaren oder papirossigefärbten Fingern - Attributen ihrer Selbstaufopferung und oppositionellen Gesinnung. Bisweilen flimmerte die Atmosphäre in dem protestantisch-nüchternen Auditorium vor dostojewskischem Enthusiasmus.

Die extreme finanzielle Not der Mehrheit machte einen Mitgliedsbeitrag von vier Rubel im Monat zum Problem. Die Schwierigkeiten dieser Menschen mit dem Informationsaustausch über extreme geographische Entfernungen - und nicht nur sie - erinnerten an das 19. Jahrhundert. Die gesetzlichen Bedingungen für die informelle Presse sind allerdings in der UdSSR weitaus härter als im alten Rußland. Der Versand von nichtstaatlichen Zeitungen ist untersagt, der Abonnementvertrieb also indiskutabel.

Die zentrale Vertriebsorganisation „Sojuspetschat“ setzt Kioske, die andere als offizielle Presseorgane auslegen, unbarmherzig unter Druck. Der Straßenverkauf von Zeitungen ist eh verboten. So kam der Swerdlowsker Kollege kürzlich in die Verlegenheit, die auf dem Trottoir ausgebreiteten Nummern seiner Zeitschrift vor den Ordnungshütern als Pop -Art zu deklarieren. Häufiger ist die Zuflucht zur Bezahlung als „freiwilliger Spende“.

Der Entwurf zu einem ersten Pressegesetz, der gegenwärtig vor den Kommissionen des obersten Sowjet beraten wird, stieß deshalb unter den Anwesenden auf empörten Widerspruch: Erneut sollen Presseorgane nicht einfach registriert werden, sondern einem komplizierten Erlaubnisverfahren unterliegen.

Zudem gibt es Gummiparagraphen, wie das Verbot für die Propaganda einer „gewaltsamen“ Änderung der Staatsordnung oder das Zensurgebot in Fällen vor, in denen „Staats- und andere Geheimnisse“ verraten werden. Und was heißt hier „gewaltsam“ und „anders?“

Wovon aber leben all diese Journalisten? Die Antworten sind verschieden. Als Korrektor von Sportnachrichten fristet der Chefredakteur der Kiewer 'Unabhängigkeit‘ sein Dasein. Der Anfangvierziger hat nach „Tschernobyl“ die meisten Zähne verloren, seine elfjährige Tochter ist an Eileiterkrebs erkrankt.

Sein Blatt, das sich hauptsächlich dem Kampf gegen die Verschleierung von Folgen der Atomkatastrophe widmet, hat in der Stadt schon eine Auflage von zehntausend. Bestenfalls leben die Anwesenden als Autoren der offiziellen Presse. Ein eichhörnchenartiger sibirischer Menschenrechtsverteidiger bietet mir erst einmal ein paar Bucheckern aus der Jackettasche an. „Unsere Redaktion hat Gewächshäuser für den Gurken- und Tomatenanbau im hohen Norden errichtet“, erklärt er dann schlitzohrig.

Eine Gewerkschaft wurde auf diesem Kongreß gegründet, doch ihre Effektivität bleibt zweifelhaft. Der Diskussionsleiter, Sergej Grigorjants, Moskauer Altmitglied der noch immer nicht anerkannten radikalen Partei „Demokratische Union“, redete hauptstädtisch arrogant am Saal vorbei.

Einmal fand er ungeteilten Beifall, nämlich als ein „Hilfsfonds“ für Extremfälle zur Diskussion stand. „Der Extremfall“, so erklärte er, „ist bei uns jeden Tag.“

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