Suche nach europäisch-deutscher Identität

DDR-Oppositionsgruppen berieten mit Westdeutschen, Ost- und WesteuropäerInnen über das Bild der Deutschen in Europa / Dominanz der Gäste aus der Bundesrepublik  ■  Aus Leipzig Christian Semmler

Finden sich die Bürgerrechtsbewegungen, die die demokratische Revolution in der DDR vorbereiten halfen, jetzt wieder dort, wo sie letzten Herbst waren: in der Rolle einer marginalisierten Opposition? Wo bleiben Eigenständigkeit, wo ostmitteleuropäische Solidarität angesichts des rasenden Zugs zur deutschen Einheit? „Demokratie Jetzt“, „Frieden und Menschenrechte“ und das „Neue Forum“ hatten zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung vergangenen Samstag in Leipzig zu einer Diskussion „Europäer über uns“ geladen - der Blick von außen sollte Vehikel sein für eine Diskussion über die „Europäisierung“ der deutschen Frage. Dany Cohn-Bendit, dessen Rhetorik aus dem Handgelenk sogar dem sterilen und fensterlosen Ambiente des Stadtverordnetensaals trotzte, faßte die schwierige Lage in einem hübschen Paradoxon zusammen: „Wir müssen jetzt über die (europäische) Auflösung des sich gerade bildenden deutschen Einheitsstaats reden.“ In einer allzu idyllischen Vision interpretierte er den Satz „Wir sind ein Volk“ als die Einträchtigkeit aller auf deutschem Boden lebenden Völker. K.Wojcicki, Deutschlandexperte der Solidarnosc, stellte das „europa-deutsche“ Gefühl, das bislang in der BRD vorherrsche, gegen das deutsch-deutsche. Seine Sorge galt der „Black box“ DDR. Gegenseitige Isolation, Haß und Mißtrauen bestimmten bislang das Verhältnis Polens zur DDR. Er forderte auf, über Chancen zu reden, nicht über Ängste, und hielt ein Plädoyer für den „Westdrift“. Der französische Germanist Phillips analysierte die Wahrnehmungsformen der deutschen Frage in seinem Land, die holländische Pastorin Jonkers sprach über das Stereotyp des Deutschen in den Niederlanden. Für G.Dalos, den ungarischen Romancier und Alleinunterhalter mit Sitz in Wien, war die DDR-Identität nur eine Hülle des realen Sozialismus. Die deutsche Einheit sei unaufhaltsam, die ostmitteleuropäischen Staaten, eingezwängt zwischen Deutschland und der Sowjetunion, sollten ihre gemeinsamen Interessen in Form einer Konföderation vertreten.

Die Dikussion litt an der Übermächtigkeit westdeutscher Beiträge und spiegelte insofern die allgemeine Lage. Die Diskussionsbeiträge der DDRlerInnen waren oft leiser, drückten unmittelbarer persönliche Erfahrungen aus, setzten sich aber kaum ins Verhältnis zu den anderen DiskutantInnen. Die DDR habe ihr eigenes Kapital, das menschliche, das Widerstandspotential, das man sich erkämpft habe. „Wir sind“, sagte ein Diskussionsteilnehmer, „in bezug auf Europa Lernende. Unsere Diktatur war für uns insofern bequem, als sie Rassismus bestrafte und uns die Auseinandersetzung mit ihm ersparte.“ Wie zur Illustration dieser These trat ein Leipziger auf, der europäische Anstrengungen zur Bekämpfung der „afro-asiatischen Überfremdung“ forderte - willkommener Anlaß für westdeutsche antifaschistische Pädagogik. Unverhoffter Höhepunkt des Tages war der Beitrag eines alten deutsch-böhmischen Gelehrten, der das Alltagsdenken der DDRlerInnen mit den Stimmungen der Deutschen im Nordböhmen der 30er Jahre verglich. Er meinte, die europäischen Völker würden sich über die deutsche Einigung am ehesten dann beruhigen, wenn innerhalb dieses Prozesses die Frage nach einer humanen und gerechten Gesellschaft nicht verstummen würde.