: Katastrophentourismus in Rüsselsheim
Nach dem schwersten S-Bahn-Unglück in der BRD-Geschichte pilgerten Tausende zum Ort des Grauens ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Frankfurt/Rüsselsheim (taz) - Tausende von Menschen aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet pilgerten am Wochenende zum Bahnübergang Königstädter Straße in der Opelstadt Rüsselsheim, in dessen unmittelbarer Nähe am Freitag gegen 17 Uhr ein aus Mainz kommender S-Bahn-Zug mit einer S-Bahn aus Frankfurt kollidierte. Bei diesem bislang schwersten S -Bahn-Unglück der bundesdeutschen Geschichte starben 18 Menschen - und rund 80 Verletzte liegen noch in den Krankenhäusern von Rüsselsheim, Groß-Gerau, Mainz und Frankfurt.
Zu dem Unfall war es gekommen, weil der Fahrer des aus Mainz kommenden Zuges ein rotes Haltesignal überfahren hatte. Das jedenfalls teilte die untersuchende Staatsanwaltschaft in Darmstadt am Sonnabend in einer Pressekonferenz mit, nachdem sie die Position der Schalter im Stellwerk Rüsselsheim überprüft hatte. Gegen den schwerverletzten Fahrer wurde inzwischen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wegen schwerer Körperverletzung und „gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr“. Der Fahrer des anderen S-Bahn-Zuges starb an der Unglücksstelle.
Warum der Zugführer der Unglücks-S-Bahn trotz rotem Signal losgefahren ist, konnte bisher noch nicht geklärt werden. Ein Vertreter der Eisenbahnergewerkschaft berichtete am Sonnabend, daß die Fahrer der S-Bahnen teilweise mehr als 100 Überstunden vor sich herschieben würden - „und die Tendenz ist steigend“. Im Auftrag der Staatsanwaltschaft werden zur Zeit die Fahrtenschreiber beider Züge ausgewertet. Unklar ist auch noch, warum das automatische Notbremssystem versagte. Das System, so die Kritik der Gewerkschaft, sei nur für den „Normalfall“ ausgelegt. Und ein vollbesetzter S-Bahn-Zug, der mit hoher Geschwindigkeit anfährt, sei offenbar nicht der „Normalfall“. Warum der S -Bahn-Zug darüber hinaus die Weichenzunge für die entgegengesetzt laufende Strecke aufdrücken konnte, ist gleichfalls noch unklar.
Bis zum Sonntag konnten fünf der insgesamt 18 Todesopfer des Unglücks noch nicht identifiziert werden. Daß es nicht noch mehr Todesopfer gab, führen Ärzte auf das rasche Eingreifen der US-Soldaten aus der unmittelbar am Unfallort gelegenen Azbill-Kaserne zurück. Die Soldaten bargen bis zum Eintreffen von Feuerwehr, Sanitätsdiensten und Technischem Hilfswerk eingeschlossene Opfer aus den ineinander verkeilten Waggons und leisteten Erste Hilfe.
Die Notärzteteams aus der gesamten Region mußten teilweise vor Ort eingequetschte Körperteile von Schwerverletzten amputieren - ein „Ort des Grauens“, wie ein Feuerwehrmann berichtete. Noch am Sonntag, als die Trümmer der S-Bahnen längst beseitigt waren und die Strecke Frankfurt - Mainz wieder freigegeben worden war, stand der Katastrophentourismus in Rüsselsheim in voller Blüte. Die örtlichen Karnevalsvereine hatten dagegen ihre Veranstaltungen für das Wochenende abgesagt und die „Jokus„ -Fahnen auf Halbmast geflaggt.
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