SOLLEN OSTLER WESTREISEN?

■ Wie ein Ostberliner Journalist einmal nach Paris geriet

Es gibt Orte auf dieser Welt, wo ein „Zoni“ einfach nicht hingehört. Er hat in der Vergangenheit sehr viel Zuwendung erfahren, liebevolle versteht sich, und wäre einfach irritiert in der kalten Rauheit, die ihm entgegenschlüge, fände sich nicht zurecht, wenn man ihn einfach entließe aus einer gewissen Obhut. Verstört sähe er sich den Winden ausgesetzt, die heftig blasen aus Richtungen, vor denen man ihn schon immer gewarnt hat, und außerdem riefe sein Erscheinen auch nur betretene Peinlichkeit hervor, dort, wo er nicht am rechten Fleck ist.

Paris beispielsweise ist so ein Ort, vor dem man jahrelang den gemeinen „Zoni“ fernhielt, zu seinem Besten. Wissend um das dünne Geflecht der Orientierung, in dem ein Mensch gehalten wird, wollte keiner das Risiko eingehen, irgendwelche Narben in das kindliche Gemüt eines so sensiblen Wesens zu brennen. Der gewöhnliche „Zoni“ oder auch „Ossi“ ist klein von Wuchs, nicht übermäßig kräftig und trägt unscheinbare Hütchen. Er hat solch drollige Namen die wohl Steven Spielberg angeregt haben würden, eine Fortsetzung zu „ET“ zu drehen, wenn der Stoff nur ein wenig mehr hergäbe für einen amerikanischen Streifen - er nennt sich also dergestalt putzig, weil man ihm 40 Jahre lang einhämmerte, er habe stolz zu sein auf seine Herkunft und heiße im übrigen Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Je nach Bedarf wird er daheim auch unter so liebevollen Bezeichnungen wie „Personalbestand“ oder „VBE“ (Vollbeschäftigteneinheit) geführt.

All diese Merkmale trafen übrigens auch auf den obersten „Zoni“ zu: Der schmächtige Wuchs, das Hütchen, etwas gehemmtes Auftreten und ebensolche Rednerfähigkeit. Dazu ein unscheinbarer Beruf, Dachdecker (Erich Honecker ist gelernter Dachdecker). Auch er kümmerte sich rührend um seine Schäflein und bediente sich dazu eines bewährten Mitarbeiterstammes, der sich gleich um das Innenleben der Mitmenschen sorgte, heute allerdings etwas in Mißkredit gebracht worden ist, einiger Hitzköpfe wegen... Es war also dafür gesorgt, daß wer nicht durch „verantwortungsvolles“, d.h. in größere Zusammenhänge sich einordnendes Verhalten und durch Hinterlegung einer Familie als Pfand gewisse Grundbedingungen besaß, nicht erst begehrlichen Blickes zur Landesgrenze hinzuschielen brauchte.

Morgens um sieben komme ich in Paris an, wuchte meine Sachen in das kleine Hotel, das ich mir gerade mit einiger Unterstützung der Verwandschaft leisten kann und renne in die Stadt. Gleich neben Saint Eustach am Forum Les Halles muß ich mich hinsetzen. Grau heben sich die Fassaden hoch vom kühl-klaren Januarlicht des Himmels ab, der Tag zieht herauf in einer Stadt, von der ich jahrelang geträumt habe. Es zuckt in den Augenlidern: Ich sehe die Leute beiläufig an den kleinen Bäumen vorüber zur Arbeit eilen, sie beachten die eigentümliche Plastik neben der Kirche, einen aufs Ohr gelegten, monolithischen Kopf und eine ihn schützende Hand, überhaupt nicht, haben keine Augen für die Restaurants, wo man um diese Zeit bereits die Hummern, Krabben, Austern und Langusten zurechtlegt - Getier, von dem man zu Hause nur gelesen und gehört hat. Niemand steht staunend vor der faszinierenden Konstruktion der Hallen, in denen ich mich nach Tagen des Hierseins noch immer verlaufen werde...

Mein Gott, das ist Paris, ist die Stadt, in der Romane spielen und Filme. „Wißt ihr überhaupt, wo ihr lebt!?“ möchte ich den Leuten entgegenschreien. „Wißt ihr überhaupt, was Freiheit ist?!“ Doch ich bleibe sitzen und muß mich erst sammeln, begreifen. Um all das haben sie uns betrügen wollen, wir sollten ein Volk der Ansichtskartensammler (Philocardisten - ja auch dafür gibt's einen Verband...) und Bildbandbetrachter bleiben, sollten uns bescheiden mit dem so romantisch zerfallenden Leipzig und den Arbeiterschließfächern in Marzahn und Hohenschönhausen. Kann jemand von außerhalb begreifen, daß zu dem Trauma, des lappigen Geldes wegen immer der zweite Deutsche zu sein, auch jenes kam, nie mitreden zu können, wenn wer rumgekommen war in der Welt. Zu peinlich die Einwürfe in solche Gespräche: Ja, ich war auch schon in Prag, Budapest, Sofia... - wo sich, abgesehen von den Sehenswürdigkeiten, im planwirtschaftlichen Einerlei nichts unterschied. Die gleichen Mängel, Losungen, „Heiligenbilder“, Sitten, das besprechen wir lieber nicht am Telefon, hast du den Brief immer noch nicht bekommen...

Paris - eine Vielzahl der Metro-Linien verwirrt ebenso, wie die Dichte der Straßen. Da sind keine Freiräume, alles geht ineinander über, nie entkommt man den Fassaden. Der Glaube an den eigenen Orientierungssinn schwindet schon bald, der Stadtplan muß helfen. Die Straßenecken sind nicht rechtwinklig - die Preußen haben hier nie recht Fuß fassen können -, viermal in die gleiche Richtung abgebogen, und man ist wo ganz anders. Und überall schleppte ich die Erinnerungen mit mir herum: Die Stimme des Sprechers im Radio „Die Pariser Zeitung 'Le Monde‘ äußert sich in ihrem heutigen Leitartikel...“ -, seit ich hören kann, gibt es diese Namen in den Presseschauen, doch wie lange hat es gedauert, bis ich sie am Kiosk liegen sehe. Da sind all die Plätze, die man sonst nur von dem mit feuchtem Blick bestaunten und lange aufgehobenen Ansichtskarten kannte, die Ankunft auf jenem Bahnhof, der gleich der ganzen Stadt immer Mythos schien beim Lesen der Fahrpläne.

Das Leben wimmelt, pulst und lacht, selbst in den engsten Nebenstraßen, die zugeparkt sind und verstopft von entladenden Kleintransportern, finden hurtige Vespa-Fahrer noch einen Spalt, um unter äußerst liberaler Interpretation der Verkehrsregeln ihren Weg fortzusetzen. Wo hätte man in all den Jahren je in Ost-Berlin solch eine Geschäftigkeit gesehen? Wenn man einmal von den „Linden“ absieht, wo nun seit kurzem jeder auf einmal auf und ab flaniert sein muß, aus welchem Zipfel der Welt er auch angereist sein möge. Später komme ich gegen elf, kurz vor Mitternacht aus der Metro, müde und schlafhungrig, und muß doch wieder hinein in diesen Trubel auf den Straßen, einfach dabeisein, die Boulevards entlangschlendern zwischen den Neonlichtern, den Cafes und Restaurants. Vergessen sind die Müdigkeit und die wehen Füße, mag die Metro ruhig ihre Pforten dichtmachen, ich wandere vom Gare du Nord bis nach Les Halles...

Langsam lerne ich sie kennen, diese Stadt Paris, finde mich zurecht und suche nicht mehr nach den Metro-Linien, besichtige den Louvre, das Musee d'Orsay, erblasse beim Hinblättern der 47 Francs für den Eiffelturm, wandere von La Defense bis zur Glaspyramide im Innenhof des Louvre die historische Achse entlang und besuche die Vororte. Doch man nimmt eine fremde Stadt erst in Besitz, wenn man mal eben an der Ecke was zum Essen kaufen kann, nicht an den Pizzabuden und Greque-Sandvich-Anbietern starren Blicks vorüberstolpern muß, der leidigen Finanzen wegen. An diesem Punkt erweist sich, daß man den DDR-Bürger in der Vergangenheit nicht hinreichend auf Luxus und Überfluß vorbereitet hat: Auch kürzere Aufenthalte in Frankfurt/Main oder West-Berlin können nicht gegen die Versuchungen des geballten Kaufangebots wappnen, die einem in Paris begegnen. Ich vermute da finstere Herren, die sich irgendwo treffen, in den verwirrenden Etagen und Gängen von Les Halles vielleicht, und ihre Strategie ausarbeiten. Eine Strategie gegen ihren Hauptfeind, den Menschen, solange er noch kein „Käufer“ ist. Wir schütten ihn zu mit unserem Angebot, werden sie sagen, wir werden keine Lücke zulassen in der Front der Geschäfte, Patisserien, Boulangerien, Confisserien... Der „Noch-nicht-Käufer“ wird unausgesetzt vorübergehen müssen an unseren Auslagen, wir werden ihn so eindecken mit unseren Verlockungen, bis er zusammenbricht, bis der knickrigste Geizkragen erst kurz den Blick abschweifen läßt und früher oder später ganz in die Knie geht, bis er sich zum Ladentisch schleppt, sein Geld auf den Teller schüttet und nichts anderes begehrt, als endlich kaufen zu dürfen.

Es muß eine abgesprochene Strategie sein, anders kann ich es mir nicht vorstellen. Nach den ersten Tagen völliger Abstinenz, Verzehr nur noch von Mitgebrachtem oder Frühstück im Hotelpreis inbegriffen, beginnt es zu zucken in der Hand, die nach dem Portemonnaie greifen will, bis schließlich ein Fenster die letzten Hemmungen bricht, nur mäßig teure und dennoch verführerisch dreinblinzelnde Törtchen offeriert... Da muß es denn sein, und der erste Schritt zu einer chronischen Kauflüsternheit ist getan.

Eim Supermarche bin ich versucht, von den großen dicken Limoflaschen gleich ein halbes Dutzend einzusacken, halte es aber für eine Zumutung, zwischen 50 oder mehr verschiedenen Sorten Joghurten wählen zu sollen und boykottiere die Milchprodukte zu Gunsten einer Tasse Kaffee hernach. Die Ansichtskartenläden erinnern daran, daß ich eigentlich noch „schöne Motive“ der französischen Hauptstadt verschicken wollte, Plattengeschäfte bringen den Kollaps in greifbare Nähe, bei Antiquariaten wechsle ich die Straßenseite und arretiere den Kopf in Geradeausrichtung.

Doch damit ist des Ostlers wirrer Dschungel nicht bezwungen. Verhältnismäßig schnell begreife ich im Hotel, daß es sich bei dem eigenwilligen Wasserhahn um einen Zeitschalter handeln muß. Zwar komme ich zu diesem Schluß erst kurz vor dem Abdrehen des Etagenhahnes und nach reichlicher Panik, aber es klappt dann doch. Schwieriger sieht es dann schon bei einer Apparatur aus, bei der mir, nachdem ich Hahn und Seifenspender zur Hälfte zerlegt habe, ein Herr mit spielerischer Leichtigkeit erklärt, daß man nur ein Fußpedal zu treten habe... Während ich noch die Hände im Luftstrom trockne, kann ich nun meinerseits mit herablassender Lässigkeit einem weiteren Herrn die Anlasge erklären. Ganz sind aber meine Zweifel noch nicht gewichen, ob ich denn in einem Cafe, das seine Toiletten vollständig mit Spiegeln ausgestattet hat, nun eine mit Wasser beflossene Raumkunstwand geschändet habe oder ob es sich dabei tatsächlich um eine Art Pissoire handelte...

Am Rande, ganz am Rande, nimmt der Reisende noch nicht jene so recht ins Bild passenden Gestalten wahr, die in den Stationen der „Metropolitain“ nächtigen, mit Fuselflaschen irgendwo in den Ecken herumsitzen oder mit Sprüchen von Bedürftigkeit in die Metro einsteigen und sammeln bei den Fahrgästen. Es gehört dazu, wenn man in den Westen kommt, solches zu erleben, Ungewohntes, obgleich sich ähnliche Gruppen im „sozialistischen Wirtschaftsgebiet“ (Gegenteil zu NSW: Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet - und gängige Abkürzung) lediglich weniger sichtbar aufhalten. Doch dieser traurige Anblick geht unter im Trubel, im Glanz und in der Freude des Reisens. Gleichfalls die Frage, ob das so sein muß, ob dies unweigerlich auch auf uns zukommt, wenn wir erst die Wirtschaft reformiert haben werden und die Marktwirtschaft, die die Töpfe füllen soll, ihre Gesetze in unser Sozialwesen trägt. Wer wüßte zu wählen zwischen dem einen Mißstand und dem anderen? Und die Euphorie des Aufbruchs läßt ohnehin unwahrscheinlich erscheinen, daß man selbst jemals betroffen sein könnte von diesem Schicksal.

Verwundert schaut sich der Reisende um, wenn er in der Bahn sich von Ausländern umgeben sieht. Klagen die Westdeutschen nicht immer über die Probleme mit den Ausländern? Hier sind es teilweise bis zu 30 Prozent. Und warum auch nicht? Ich genieße die Vielfarbigkeit der Pariser Menschenmengen, die Frisuren der Schwarzen und die oft anmutigen Erscheinungen der Asiatinnen, wie schön, wenn es doch hier ohne Reibereien abgehen könnte! Doch hin und wieder gibt es wohl auch in Paris Auseinandersetzungen, und die Front des Jean-Marie Le Pen marschiert, die Wohnviertel rund um die Station „Stalingrad“ sind nicht die besten...

Die Arbeit brachte es mit sich, an einer Einladung in den Elysee-Palast teilnehmen zu dürfen. Wie aber soll man nun dieses beschreiben? Die betreßten Wächter, das livrierte Personal, die Gobelins und die Tafel mit Köstlichkeiten, die mit Namen zu nennen ich nicht imstande wäre. Aus einer Stadt kommend, die ihre Bewohner vor dem Oktober 1989 eher zu Randfiguren und Zuschauern der Geschichte machte, und nun in diese Kreise? Nach dem Kaffee dann die Stimme: Le President de la Republique, ein lächelnder, wie ein gutmütiger Opa wirkender Fran?ois Mitterrand, Erkundigung nach dem Aufenthalt und der Tätigkeit, der Händedruck... Mein erster Präsident drückt mir die Hand. Wie lange wird es dauern, bis Ordnung sein wird in den Kategorien von früher und heute, bis ich begreife, warum ich noch vor einem halben Jahr auf den 65.Geburtstag meines Onkels warten mußte und nicht sicher sein konnte, ob ich denn hinfahren dürfte, und nun mit einem Male ist da Paris, ein Stück Welt, eine neue Art von Journalismus, der sich nicht mehr nur in bestarbeitenden LPGen, Taubenzüchtervereinen und bereits vorgeschriebenen Reden erschöpft, sondern in Ansätzen beginnt, etwas von dem zu bekommen, wovon man immer träumte?

Ja, man kann dem „Zoni“, dem vormaligen, nicht raten, nach Paris zu fahren. Zu stark sind die Anfechtungen, zu schwach das Geldetui, er kennt sich nicht aus mit den Armaturen jenseits der nächtelang erstandenen aus der heimischen Baustoffversorgung, er muß in La Defense oder Boissy le Grand erkennen, daß man vor der Stadt von morgen dennoch keine Angst haben muß, daß nur seine Blockhäuser eben ein kurzer Mißgriff der Geschichte waren. Der gutwillige „Ossi“, der nun bescheiden eben mal ein Stück Welt ertastet und sich in der Vergangenheit mit der Statistik tröstete, zu den zehn stärksten Industrienationen zu gehören (wenngleich ihm das im Konsum auch nicht so ganz einleuchtete), er muß erst langsam zu sich kommen, begreifen, daß vielleicht doch nicht alles gesetzmäßig war, was man ihm in der Vergangenheit als solches verkaufte... Sollte man ihm die traurige Rückschau auf 28 Jahre Isoliertheit nicht lieber ersparen, in denen man sich selbst der Möglichkeit beraubte, bei anderen mal zu sehen, wie sie es machen? Und am Ende kommt er womöglich gar noch zu dem Schluß, daß es verdammt schade ist, wenn der „faulende und absterbende Imperialismus“ demnächst schmählich untergeht...

Ralf Schuler