West-Berlins Krankenhäuser vor dem Infarkt?

■ Jeder Zentimeter wird genutzt: Überall stehen Betten: im Arztzimmer, im Flur, in Nebenräumen - und überall fehlen Betten / Kilometerweite Transport-Odysseen für Schwerkranke / Die Ausnahmesituation ist die Regel / Es gibt Tage, an denen kein einziges „inneres“ Bett frei ist

Die medizinische Versorgung in den Westberliner Krankenhäusern steckt in einer tiefen Krise. Der Befund: Immer mehr Stationen platzen aus allen Nähten. Diagnose: Akute Überbelegung. Allein im Krankenhaus Neukölln liegt die Belegungszahl zwischen 105 und 115 Prozent. Das vielgepriesene „Mekka der Medizin“, das Universitätsklinikum Rudolf Virchow (UKRV), kann auf manchen Stationen sogar eine Überbelegung von bis zu 20 Prozent vorweisen. Jeder Zentimeter wird genutzt: Auf einer kardiologischen Station mit einer Kapazität von 40 Betten liegen zur Zeit 48 Kranke

-im Arztzimmer, auf dem Flur, oder die Pflegekräfte schieben kurzerhand noch ein weiteres Bett in ein bereits voll belegtes Zimmer. Eine Notlösung mit fatalen Folgen: „Erst vor kurzem haben wir es nicht mehr geschafft, einen Patienten mit akutem Herzversagen rechtzeitig aus diesem beengten Raum herauszufahren“, schildert Oberarzt Cornelis Langescheid die beklemmende Lage gegenüber der taz. Beklemmend ist die Lage auch ein Stockwerk tiefer auf der Intensivstation - alle Betten sind belegt. „Hier liegen jedoch nicht etwa nur Intensivpatienten“, erläutert Oberschwester Ingrid Hegemann, „aber die peripheren Stationen sind dicht, wir können niemanden verlegen!“ Schon 64mal hatte die Intensivstation seit dem 1.August letzten Jahres für Neuaufnahmen einfach keinen Platz mehr und konnte somit ihrer primären Aufgabe, der Notfallversorgung, nicht mehr nachkommen. Die Folge: Für den Notarztwagen (NAW) ist diese Abteilung gesperrt, Akut-Kranke müssen riskante Kilometer Transportwege in andere Krankenhäuser in Kauf nehmen. Zum Beispiel ins Klinikum Steglitz - hier ist die Erste Hilfe noch geöffnet. Für aufschiebbare Fälle steht jedoch auch das Klinikum im Süden nicht mehr zur Verfügung. Steglitz, Neukölln und das UKRV sind keine Ausnahmefälle: In sämtlichen Inneren Abteilungen West-Berlins war beispielsweise am Dienstag vergangener Woche kein einziges Frauenbett mehr frei. Männer hatten mehr Glück: Für sie standen immerhin noch zwei Betten bereit. „Es ist ein einziger Kampf, die kranken Leute irgendwo unterzubringen“, schimpft Edeltraut Sch., Krankenschwester in der Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses. Hier werden durchschnittlich 140 Kranke pro Tag versorgt, die nächtliche Aufnahmestation ist zur Zeit meist schon vor Mitternacht „knallvoll“. An der Grippewelle oder dem Zulauf von DDR -Bürgern, „wie der Senat uns immer weismachen will“, läge die permanente Überfüllung sicher nicht, da sind sich Pflegekräfte und Ärzte einig. Bereits im Sommer habe sich die Situation extrem zugespitzt, seit Juni '89 wurden im Rahmen des noch gültigen 86iger Krankenhausplanes 447 Akutbetten ersatzlos gestrichen.

Aufgefangen werden sollten die Bettenstreichungen durch verkürzte Liegezeiten. Doch dies erweist sich nun als Fehleinschätzung. „Werden die Patienten zu früh entlassen, kommen sie nach wenigen Tagen umso kränker zurück“, schildert Hannelore Rebien, Pflegedienstleiterin am DDR -Krankenhaus Mark Brandenburg den sogenannten „Drehtüreffekt“.

Für ständige Überbelegungen sorgen auch die chronisch Kranken und pflegebedürftigen Menschen, die in der Klinik bis zu drei Monate auf einen Pflegeplatz warten. Der direkte Weg von ambulanter Versorgung zum Pflegeheim ist fast unmöglich. Viele Hausärzte schützen eine akute Einweisungsdiagnose vor, um die meist älteren Patienten in einem Krankenhaus versorgt zu wissen. Vor allem die internistischen Stationen sind dadurch hoffnungslos überfüllt und verlegen ihre Patienten auf andere Fachabteilungen. Doch auch deren Kapazitäten sind mittlerweile erschöpft. Sogenannte „Überbetten“ sind die Regel und werden bereits von vornherein eingeplant. Die Senatsgesundheitsverwaltung hat jedoch bislang noch keine Hilfsmaßnahmen angekündigt und beruft sich auf das Landeskrankenhausgesetz: Demnach sind die Krankenhäuser verpflichtet, in „einmaligen Situationen“ 15 Prozent ihrer Betten „überzubelegen“. Ein weiterer Befund könnte die Krise jedoch bedrohlich werden lassen: Schon jetzt liegt der Krankenstand des Pflegepersonals auf vielen Abteilungen bei 20 Prozent.

Martina Habersetzer