Im Elfenbeinturm-betr.: "Erklärung Berliner PhilosophInnen", taz vom 10.1.90

betr.: „Erklärung Berliner PhilosophInnen“, taz vom 10.1.90

Auch PhilosophInnen sind Behinderte! Sie müssen Bücher immer erst lesen und diskutieren, bevor sie sie beurteilen. Es mangelt ihnen an klaren Prinzipien, das, was gerade als „böse“ oder „faschistisch“ gilt, so zu verurteilen wie unser kranker Nachbar auch. Sie leben in einer kleinen, wenig beachteten Ecke der Gesellschaft, wo sie „rationale Diskurse“ und ähnlichen Unsinn betreiben, nach denen sich kein Mensch außer ihnen richtet (oder glaubt irgend jemand im Ernst, Wirtschaft und Politik seien von jenem beeinflußt, was man bei ihnen unter ethischem Handeln versteht?).

Jedoch im Gegensatz zu anderen Behinderten wissen sie, daß eine Behinderung (auch) eine Behinderung ist und weniger eine Qualifikation. Im elfenbeinernen Turm zu sitzen, ist ihnen eher ein Mangel als eine Berechtigung, andern übers Maul zu fahren. Es wäre schön, wenn man das auch von denen sagen könnte, die einen Sitz im Rollstuhl mit einem Papstthron verwechseln.

Es waren Philosophen wie Wittgenstein, die (im Gegensatz zur Psychoanalyse) einen Verrückten als einen Menschen wie du und ich zu akzeptieren lehrten, als jemanden, der eben ein anderes (Sprach-)Spiel als ich spielt.

Im übrigen würde mich interessieren, wie viele tatsächlich Behinderte diese Kampagne der Dummheit mittragen und ob nicht wieder diese immer gleiche Gruppe der Unterdrückten honoris causa dahintersteckt, gefallene Engel des Elfenbeinturms, denen jeder Anlaß recht ist, jenen eins auf die Fresse zu geben, die das werden durften, was ihnen versagt blieb: ein/e Intellektuelle/r.

Ich darf das hier so sagen. Ich darf überhaupt alles sagen und ihr schweigt schön still: Ich hatte nämlich Kinderlähmung.

Bernhard-Andreas Becker-Braun, Essen

betr.: dito

Mit Befremden und Empörung nehmen wir Ihre Erklärung zur „Euthanasie im Fach Philosophie“ zur Kenntnis, und es fällt uns schwer zu glauben, daß Sie sich wirklich ernsthaft mit den Singerschen Thesen und ihren Implikationen auseinandergesetzt haben. Wir können uns nur vorstellen, daß es Ihnen in erster Linie um die von Ihnen so bezeichnete „argumentative Toleranz“ geht und Sie das mit Ihren Unterschriften bekräftigen wollten.

Aber wollen Sie wirklich allen Ernstes behaupten, es gäbe ein elementares Gebot und somit Recht, alles und jedes zum Thema öffentlicher Diskussion zu machen? Halten Sie es nicht vielmehr für eine Zumutung, daß wieder einmal öffentlich diskutiert werden soll, wem ein Lebensrecht zugebilligt werden soll und wem nicht? Fühlen nicht gerade Sie sich in der Verantwortung, als Anwältinnen/Anwälte der so zur Disposition gestellten Menschen aufzutreten und hier ein deutliches Wort zu sprechen? Jede öffentliche Diskussion über das „Lebensrecht“ verletzt die Würde der so zur Vernichtung Freigegebenen sowie derer, die mitfühlen können, und zwar unabhängig davon, ob das Verdikt letztlich Todesstrafe hieße oder ob es zu einer argumentativen Begnadigung käme. Ihr Hinweis darauf, daß die Zusammenhänge in der Singerschen Argumentation gewürdigt werden mögen, geht daran vorbei, daß Singer Zusammenhänge konstruiert, wo keine sind: Warum kann Herr Singer sich nicht für das Lebensrecht der Tiere einsetzen, ohne gleichzeitig bestimmten Menschen dieses Recht abzusprechen? Hier besteht kein nachvollziehbarer argumentativer Zusammenhang.

Bei den Widersprüchen Singers, die auch Ihnen aufgefallen sein müssen, verwundert es, wie Sie seine KritikerInnen in die Pflicht nehmen wollen: Diese sollen aufzeigen, daß beziehungsweise ob es widerspruchsfrei möglich ist, einige Positionen Singers zu bejahen und andere abzulehnen.

Natürlich kann ich für Tierschutz eintreten, ohne gleichzeitig - wie Singer - schwer hirngeschädigte Menschen zu Unpersonen und unwertem Leben zu erklären. Das Suggestive der Singerschen Thesen ist es ja gerade, daß er die uns alle stark beschäftigende Umweltproblematik aufgreift, gleichzeitig aber über die Einführung des Qualitätsbegriffs das Lebensrecht Behinderter in Frage stellen möchte.

Durch die Verknüpfung der Thesen mag es ihm gelingen, dem/der unkritischen LeserIn zu suggerieren, die eine These ergäbe sich folgerichtig aus der anderen. Geschulten und aufmerksamen WissenschaftlerInnen jedoch sollte dieser Fehler nicht unterlaufen. In Punkt vier Ihrer Erklärung räumen Sie ein, daß wir Deutschen aufgrund unseres geschichtlichen Erbes eine besondere Sorgfaltspflicht bei der Diskussion dieser Thematik haben. Wie wahr!

Was soll aber der Hinweis auf die Geschichte, wenn aus ihr nicht die richtigen Folgerungen gezogen werden? Die Lehre aus den Naziverbrechen kann doch nicht sein, es müsse nun über alles, beispielsweise über diese Verbrechen, im Für und Wider diskutiert werden dürfen.

Aus heutiger Sicht und mit dem heutigen Wissen muß die Vorstellung Schaudern hervorrufen, es hätten zum Beispiel Juden in einer Podiumsdiskussion versuchen müssen, argumentativ darzulegen, warum und weshalb sie meinten, ein Lebensrecht zu haben. Wenn es heute wieder möglich ist, daß das Lebensrecht von Menschen öffentlich in Frage gestellt wird, und wenn ein Teil der geistigen Elite dies mit formaler und inhaltlicher Argumentation stützt, statt ihren Bildungsauftrag dazu zu nutzen, sich schützend vor die Schutzlosen zu stellen, drängt sich doch ganz massiv die Frage auf: In welche Richtungen haben sich die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft entwickelt, und welchen Werten fühlen sich die die Erklärung zur „Euthanasie im Fach Philosophie“ unterzeichnenden PhilosophInnen verpflichtet?

Gabriele Hanna für die Selbsthilfegruppe der Querschnittgelähmten, Berlin

betr.: „Erklärung Berliner

PhilosophInnen“, taz vom 10.1.90, LeserInnenbriefe dazu, taz vom 29.1.90

Liebe Frau Kobusch, auf Ihre Suchanzeige möchte ich mich melden. Ich verstehe mich als Tierschützerin und glaube trotzdem nicht, daß man unbedingt hilflose Menschen euthanasieren müßte (und bin sogar überdies noch Philosophin). Aber Sie wissen selbst, daß es um diese allgemeine Frage gar nicht geht.

Es geht nicht um das Töten beliebiger hilfloser Menschen, sondern um Euthanasie in bestimmten Extremfällen. Und in diesen Fällen, in denen ein Kind, das nicht selbst entscheiden kann, ein kurzes Leben unter grauenvollen Schmerzen vor sich hat, bin ich in der Tat der Meinung, daß aktive Euthanasie humaner wäre als passive Euthanasie, die ja faktisch praktiziert wird und worüber sich niemand in diesem Maß aufregt.

Wer meint, daß „niemand“ für einen anderen Menschen entscheiden kann und darf, ob dieser unter seinem Zustand leidet oder nicht“ (Brief von E.Melang), übersieht, daß es auch eine Entscheidung ist, wenn man ein Kind einem langsamen qualvollen Sterben überläßt. Es ist (dies gegen den Brief von M.Kühn) gerade diese Einstellung, man könne durch Wegsehen und Nichteingreifen seine Unschuld bewahren, welche typisch ist „in einem Staat, der seine faschistische Vergangenheit nicht bewältigt hat“. Die von Ihnen und anderen gebrauchte Formulierung, hier werde bestimmten Menschen das Lebensrecht abgesprochen, geht an den Problemen vorbei.

Ein Recht auf Leben setzt den Wunsch nach Weiterleben voraus. Versuchen Sie sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, welcher andauerndem grauenhaftem Leiden ausgesetzt ist, ohne Aussicht auf Besserung und ohne die intellektuellen Fähigkeiten, mit Hilfe derer Personen dieser Situation trotzdem einen Sinn abgewinnen könnten. Könnten Sie dann wirklich aufrichtig behaupten, Sie würden gern möglichst lange so weiterleben?

Ich nehme an, daß gerade Sie, Frau Kobusch, über die medizinischen Phänomene besser informiert sind und über die Probleme mehr nachgedacht haben als viele andere. Daher hätte ich erwartet, daß Sie eine besondere Verpflichtung empfinden, für Klärungen und Differenzierungen in der Debatte zu sorgen. Es erstaunt mich, daß Sie sich statt dessen vor eine Hetzkampagne spannen lassen, die keinerlei ernsthaftes Interesse an den medizinischen Problemen hat, die nun mal existieren.

Sicher, Singer macht Vorschläge, die über die genannten Extremfälle hinausgehen, wenn er sagt, man könne ein neugeborenes Kind schon dann töten, wenn die Aussicht besteht, es durch ein anderes mit größeren Glückschancen zu ersetzen. Ich teile diese Auffassung nicht. Aber die Art, wie darüber diskutiert wird, ist völlig unfruchtbar. Auch wenn Sie Singer als „Ethik-Übervater“ bezeichnen, er ist nur einer von vielen angelsächsischen Philosophen, die in der dort verbreiteten Tradition des Utilitarismus stehen. Über diese Theorie kann man sich natürlich streiten, aber dazu müßte man sich gründlich einarbeiten, statt mit ein paar Schlagwörtern um sich zu werfen.

Das Herumhacken auf der Person Singers trägt hierzu nichts bei, sondern ist nur ein Manöver, das von den Fragen ablenkt, die entschieden werden müssen.

Prof.Dr.phil. Ursula Wolf, Berlin