Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus

■ betr.: „Erklärung Berliner PhilosophInnen“, taz vom 10.1.90

In der „Erklärung Berliner PhilosophInnen“ vom 14.12.89 beschweren sich die VerfasserInnen über die Störungen, die in den vergangenen Monaten gegen Veranstaltungen mit und über den australischen Ethik-Professor Peter Singer und dessen Thesen zur „Euthanasie“ an behinderten Menschen durchgeführt wurden. Die Westberliner PhilosophInnen halten „die Verhinderung der Diskussion dieser Thesen für einen skandalösen Vorgang, der das elementare Gebot argumentativer Toleranz verletzt“.

Darüber hinaus halten sie die Diskussion seines Buches für geboten, „weil es sich in erster Linie mit solchen Problemen beschäftigt, für deren Beurteilung und Entscheidung in unserer Gesellschaft keine allgemein akzeptierten Kriterien (mehr) vorhanden sind“.

Sie wenden sich dagegen, daß Singers Tötungsthesen aus dem Zusammenhang seiner ethischen Positionen gerissen werden, die sich aus „seinem Personenbegriff und der Grundverpflichtung, Leiden zu vermeiden“ ergäben. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte aber müßten die von Singer aufgeworfenen Probleme mit besonderer Sorgfaltspflicht diskutiert werden, anstatt sie „zu verdrängen oder deren Diskussion mit Gewalt zu verhindern“.

Wir halten die Störungen für gerechtfertigt:

-Wir betrachten Singers Praktische Ethik nicht als harmlosen „unparteiischen Beitrag“ zu einem internationalen ethischen Diskurs über abhanden gekommene Werte. Singer und seine AnhängerInnen verfolgen die Absicht, die Tötung behinderter, kranker oder alter Menschen als mögliche Handlungsvariante diskutierbar zu machen. Die Existenzberechtigung bestimmter Menschen, die mit dem Etikett: „unheilbar leidend/einsichtsunfähig“ zum sozialen Problem degradiert werden, wird von ihnen in Frage gestellt. Trotz des Hinweises auf die deutsche Vergangenheit spielt die Erfahrung der NS-Vernichtungsprogramme keine Rolle im Diskurs der Westberliner PhilosophInnen. Denn daraus müßten sie gelernt haben, daß es fatal ist, bestimmte Menschen zum sozialen Problem zu erklären, die Enttabuisierung einer tödlichen „Lösung“ einzufordern und über die Menschenwürde der Betroffenen hinweg durchzusetzen.

-Singers vielzitierte These - „Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.“ ist in keinem, aber auch gar keinem Zusammenhang diskutierbar! Wer derartigen Thesen das Etikett der wissenschaftlichen Philosophie verleiht, der/die verkennt die Implikationen. Denn: Akzeptiert wird eine Philosophie in deren Menschenbild (bestimmte) Behinderte nicht mehr vorkommen, in der die Vernichtung behinderter Menschen auf der gedanklichen Ebene bereits vollzogen ist.

-Singers Praktische Ethik hat eine sehr praktische gesellschaftliche Funktion: Indem Singer die Tötung behinderter Menschen unter bestimmten Voraussetzungen für moralisch gerechtfertigt erklärt, hierfür Handlungsanweisungen bietet, liefert er die ethische Grundlage, auf der Auslese- und Vernichtungspolitik öffentliche Akzeptanz gewinnt. Die Vorstufen zu einer derartigen Politik sind bereits bundesdeutsche Normalität:

Die Verabschiedung eines Bundesgesetzes, das in bestimmten Fällen die unfreiwillige, also Zwangssterilisation geistig behinderter Menschen legalisiert, steht kurz bevor.

Die humangenetische Beratung und die vorgeburtliche Selektion behinderter Feten wird von MedizinerInnen und JuristInnen als „verantwortungsvolle Schwangerschaftsvorsorge“ proklamiert. Wer sich dem neuen Postulat der „freiwilligen Eugenik“ entzieht, wird zunehmend diskriminiert.

Die Ermordung alter und behinderter Menschen wird nicht selten praktiziert. Wurden diese Fälle noch unter Überschriften wie: „Skandal im Krankenhaus“ publiziert, so gewinnen doch diejenigen Stimmen an Bedeutung, die dafür wohlwollendes Verständnis entgegenbringen. Hier wird durch gezieltes Vorenthalten geeigneter Lebens- und Entwicklungsbedingungen mit Hilfe von Kosten-Nutzen -Vergleichen die „Euthanasie“ als humane „Lösung“ legitimiert.

Die Weichen in der Gesundheits- und Sozialpolitik sind auf „Pflicht zur Gesundheit“ und „wachsende Leistungsbereitschaft“ gestellt.

Immer größere Bevölkerungsteile werden von sozialen Leistungen abgeschnitten und ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Das Recht auf Teilhabe gerät zum Privileg derer, die den Qualifikations- und Qualitätsanforderungen der neuen technologischen (Re-)Produktionsverhältnisse genügen.

-Die Störungen und Sprengungen von Veranstaltungen, in denen Singers Thesen im „wissenschaftlichen Rahmen“ diskutiert werden sollten, stellen den Versuch dar, der Anpassung der herrschenden Moral an diese Brutalisierung der Lebensverhältnisse Einhalt zu gebieten. An den Störungen beteilig(t)en sich oftmals Behinderte, die von Singers Ethik (potentiell) betroffen sind und die ihre Menschenwürde verteidig(t)en. Wenn die Westberliner PhilosophInnen hierauf erklären, „daß es fatal ist, Probleme zu verdrängen und deren Diskussion durch Gewalt zu verhindern“, dann verkehren sie die (Gewalt-)Verhältnisse.

-Die „argumentative Toleranz“, die die PhilosophInnen gegenüber Singers Thesen einfordern, ist die gleiche, die eine Diskussion über die These von der „Überlegenheit einer arischen Rasse“ erlaubt. In beiden Fällen aber muß der zugrunde liegende Wille, Menschen als ungleichwertig erkennen zu wollen, bekämpft werden.

Abgestumpft durch die Routine der akademischen Auseinandersetzung, sind die Westberliner PhilosophInnen offenbar nicht mehr in der Lage, die Grenze zu erkennen, hinter der Toleranz repressiv wird. Ethik, die existenzbedrohend diskriminiert, die tödlich wirkende Vorurteile aktiviert und sich dem Zeitgeist anpaßt, ist eben nicht nur Gegenstand des gepflegten wissenschaftlichen Diskurses. EthikerInnen, die den Anspruch haben, ihre Theorie praktisch werden zu lassen, dürfen sich nicht wundern, wenn der drohenden bedrohlichen Praxis, Widerstand entgegengesetzt wird.

-Es darf nicht wieder diskutiert und definiert werden, wer aufgrund welcher Merkmale und Eigenschaften Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist, sondern es müssen alle gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Mittel so eingesetzt werden, daß jeder Mensch unter optimalen Lebens und Entwicklungsbedingungen leben kann. Das Lebensrecht behinderter Menschen ist nicht diskutierbar.

Diskutiert aber werden muß, warum Selektionsprinzipien wieder gesucht und gefunden werden; warum tödliche Ethiken wieder Konjunktur haben.

Diskutiert werden muß auch, warum so vielen WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen das Prinzip von der „Gleichheit aller Menschen in ihrer Differenz“ abhanden gekommen ist.

Rhein/Main-Ratten gegen Gen- und Repro-Unsinn; Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologie, Darmstadt; Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologie im FFGZ Frankfurt; Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologie, Mainz; Gemischte Gruppe gegen Gen- und Reproduktionstechnologie Rhein/Main; Bundesweites Forum der Krüppel- und Behinderteninitiativen; AK Sozialpolitik Wiesbaden; Freie Gesundheitshilfe e.V., Wiesbaden; Infoladen Wiesbaden; Autonomes Frauenplenum, Wiesbaden; feministische Anti-Fa, Wiesbaden; Cafe Klatsch -Kollektiv, Wiesbaden; O.B.S.T. Offenbacher Behinderten -Selbsthilfe-Treff für Behinderte und Nichtbehinderte; Aktionsgruppe Behinderter in Kassel; Interessengemeinschaft behinderter StudentInnen, GH Kassel; ABeR, Autonomes Behindertenreferat der GH Kassel; Die ThettoknakerInnen, Essen; Die Entfesselten, Darmstädter Initiative für selbstbestimmtes Leben Behinderter; Asta Referat Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnik, Marburg; Autonom Leben, Hamburg; Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg; Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes in Hamburg; KilleralGen, West-Berlin; Die GENervten, West -Berlin; Genarchiv Essen; Frauen gegen den § 218, Bundesweite Koordination; IWF-Gruppe, Münster; DeLSI, Münster; Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechniken, Oldenburg; Zentrum für selbstbestimmtes Leben, Köln; Asta der Uni Frankfurt; Fachschaft Kritisches Arbeitsforum Pädagogik, Frankfurt; Fachgruppe Sonderpädagogik, Frankfurt; Vollversammlung der Sonderschul- und Heilpädagogen der Uni Frankfurt; § 218-Gruppe, Münster; KRIM (Krüppelinitiative Marburg); StudentInnen des Studiengangs Behindertenpädagogik an der Uni Bremen; LAG „Eltern gegen Aussonderung“, Bremen; Selbstbestimmt Leben e.V., Bremen; Bremer Frauenkrüppel -Gruppe; MitarbeiterInnen der „Individuellen Schwerbehindertenbetreuung“ des DPWV Bremen; Hamburger Institut für Sozialgeschichte; Redaktion „1999“ Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Hamburg; AG Bevölkerungspolitik an der Uni Oldenburg; AK „Keinen Fußbreit den FaschistInnen“, Uni Oldenburg; Links und unbelehrbar, Uni Oldenburg; Fachschaft Sonderpädagogik, Uni Oldenburg; Fachbereichsinitiative des Fachbereichs Biologie, Frankfurt; Archiv für Sozialpolitik e.V., Frankfurt; Feministisches Frauengesundheitszentrum e.V., Berlin; FINRRAGE (Feminist International Network of Resistance to Reproductive and Genetic and Engineering) Regionalgruppe Berlin; Ermittlungsausschuß West-Berlin; Eltern für Integration e.V. Berlin; Ambulante Dienste e.V., West-Berlin; Krüppelfrauenstammtisch gegen Gen- und Reproduktionstechnologien und Eugenik, West-Berlin; Selbsthilfeguppe der Querschnittsgelähmten, West-Berlin; Fuchs-Brucker-Filmproduktion, West-Berlin; AL Behindertenbereich, West-Berlin; Lebenshilfe für geistig Behinderte, Bremen e.V., Vorstan; Fachschaft Psychologie der Uni München; Hermann L.Gremliza ('Konkret'-Herausgeber, Hamburg); Oliver Tolmein ('Konkret'-Red., Hamburg); Wolfgang Schneider ('Konkret'-Red., Hamburg); Dr.Dorothee Gremliza (Verlegerin, Hamburg); Theresia Degener (Juristin, Frankfurt); Gisela Hermes (Aktionsgruppe Behinderter in Kassel, AKB, Kassel); Maria Auer (AKB, Kassel; Bettina Schneider (AKB, Kassel); Richard Pinks (AKB, Kassel); Birgit Schopmans (AKB, Kassel); Jörg Fretter (AKB, Kassel); Petra Kiss (AKB, Kassel); Gabriele Pinnas (AKB, Kassel); Ottmar Paul (AKB, Kassel); R. und S. Albrecht (Eltern eines behinderten Kindes, Bremen); Dr. Andreas Jürgens (Richter, Kassel); Detlef zum Winkel (Journalist, Ffm); Franz-Josef Degenhardt (Liedermacher, Quickborn); Gusti Steiner (Sozialarbeiter, Dortmund); Birgit Rothenberg (Dipl.-Päd., Dortmund); Udo Sierck (Freier Autor, Hamburg); Nati Radtke (Auton. Leben, Hamburg); Monika Scheffler (Journalistin, Bielefeld); Marianne Christel (Biologin, West-Berlin); Prof. Helga Deppe-Wolfinger (Uni Frankfurt); Wilma Kobusch (Essen); Prof. Dr. Julius Schoeps (Uni Duisburg); Prof. Rest (Professur für Erz.wiss.schaft, Sozialphilosophie und Sozialethik, FH Dortmund); Dr. Peter Rödler (Dozent, Uni Frankfurt); Prof. Barbara Rohr (Uni Bremen); Prof. Georg Feuser (Uni Bremen); Prof., Eberhard Beck (FH, Frankfurt), Prof. Fritz Barabas (FH, Frankfurt); Prof. Bernd Kirchlechner (FH, Frankfurt); Prof. Michael Erler (FH, Frankfurt); Dr. Karin Windaus-Balser (FH, Frankfurt); Prof. Ursula Straumann (FH, Frankfurt); Anita Schneider (Ärztin, Kelkheim); Werner Neumann (Physiker, Kelkheim); Karin Otto (Chemotechnikerin, Kelkheim); Sabine Karrer (Dipl.Päd., Frankfurt); Anna Mesche (Buchhändlerin, Kronberg); Kai Krahnen-Maltz (Freier Journalist, Frankfurt); Dr. Angela Vogel (Publizistin, Frankfurt); Claudia Burgsmüller (Rechtsanwältin, zur Zeit FH Wiesbaden); Katharina Körner (Frauenhausmitarbeiterin, Berlin); Johanna Pütz (Pädagogin, HdK Berlin); Prof. Georg Fülberth (Uni Marburg); Ulrike Gottschalk-Porst (Autorin, Berlin); Eckhard Porst (Philosoph, Berlin); Lothar Sandfort (Randschau, Zeitschrift für Behindertenpolitik); Ingrid Schölzel-Dingeldein (Integratives Kinderhaus, Kelkheim); Erich Ehmes (Redakteur, Hanau); Jutta Rütter (Dipl.Päd., Marburg); Friedrich Albrecht (Dipl.Päd., Frankfurt); Barbara Thomino (Dipl.Psych., West-Berlin); Margot Krischok (Sozialarbeiterin, West-Berlin); Andrea Plumpe, (Interessengemeinschaft behinderter StudentInnen an der Uni Ffm); Jesko Barabas, Ute Kastner (Behindertenreferat, Uni Frankfurt); Klaus Ripken (Geschäftsführer der Lebenshilfe, Bremerhaven); Annedore Stein (Sozialpädagogin, Bremen); Lisa Degener (Ärztin, Altenberge)