DDR-Verkehr: ratlos oder radlos?

■ Gefährliche Leidenschaften: Mit dem Radl durch Ost-Berlin zwischen Straßenbahnschienen und Trabi-Wolken

Ute Scheub

Zittern am ganzen Leib. Es knattert und kracht und scheppert. Kein Wunder: Kopfsteinpflaster. Angestrengtes Aufpassen, daß das Vorderrad nicht in einen offenen Gully oder ein Schlagloch gerät oder auf die Schienen der Straßenbahn, die durch die Schönhauser Allee rumpelt, eine der Hauptverkehrsstraßen Ost-Berlins. Joa, i bin mi'm Radl doa. Um die Wege zu erkunden, die die DDR-Verkehrsplaner eingeschlagen haben und hoffentlich bald einschlagen werden. Denn bei aller Unbequemlichkeit: Die Verkehrsmangelwirtschaft unserer Nachbarn ist auch eine Chance - die Autodichte, das Straßennetz und auch die Unfallzahlen sind halb so groß wie bei uns. Gerade jetzt hätten die DDRler eine historische Möglichkeit, es anders zu machen als die BRDler - die Betonköpfigen Raser Deutschlands. Verkehrskontrolle von unten wäre nötig, nicht nur für die Radfahrer, die in der gesamten DDR immerhin 16 bis 18 Prozent des städtischen Personenverkehrs ausmachen.

Stau vor der Ampel. Hustenanfall. Der Trabi direkt vor mir hüllt mich zärtlich in weiß qualmende Abgase ein. Eine atemberaubende Erinnerung daran, daß einer älteren Statistik zufolge ein Viertel aller auf das DDR-Volk niederrieselnden Schadstoffe aus dem Verkehr stammt. Der Trabant pustet so viel blutbildverändernde und krebserregende Kohlenwasserstoffe aus wie neun westliche Viertaktmotoren gleicher Größe, so viel Übelkeit verursachendes Kohlenmonoxid wie fünf Westautos und dazu noch noch eine erkleckliche Menge des Nervengiftes Blei: etwa 0,4 Gramm pro Benzinliter. Dafür aber stößt er nur rund ein Zehntel atemwegreizenden und waldkillenden Stickoxids aus.

Die Fahrt geht weiter, wenn man das überhaupt so nennen kann auf dieser Holperpiste, die einen wie durch die Waschmaschine dreht. Solche Rüttelrouten sind nach Meinung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (West) nicht nur eine Herausforderung an die Konzentrationsfähigkeit, sondern auch „gesundheitsschädlich“. Auf jeden Fall gefährlich für die körperliche Unversehrheit meines Fahrrads. Unbemerkt in dem ganzen Krach ist die rote Rücklichtschale abgefallen.

Fluchend bremse ich vor einem staatlichen Fahrradladen der HO-Handelskette. Mit einem Rücklicht kann die Verkäuferin nicht dienen, geschweige denn mit Rädern. Der Laden ist leer, nur wenige Ersatzteile lagern in Pappkartons. „Alle drei, vier Wochen ham wir mal 40 Fahrräder, 26er Standard für 250 Mark, und die sind dann in einem halben Tag weg. Die Nachfrage ist ja so groß“, zuckt sie resigniert die Achseln. „Es gibt jetzt nich‘ mal mehr feste Lieferzeiten. Das liegt an den Streiks. Soll'n die Leute doch besser nach Feierabend streiken. Nee, nee, ick bin nich‘ in der SED, Gott bewahre, aber ick bin ooch nich‘ dafür, unser Land zu ruinieren.“

Eine Kundin betritt den Laden, die Abfertigung geht schnell. „Ventile? Tut mir leid, ham wa nich‘. Dat mit den Ersatzteilen, dat is‘ schon schlimm.“ Ihr folgen zwei Vietnamesen, die eine Fahrradlampe erbitten. Die Frau schiebt das Geforderte mit unwirscher Handbewegung über den Tresen: „Ihr kauft uns allet weg!“ Schnell stecken die beiden den Karton ein und verschwinden. Eine durchaus typische Szene, wie später Ostberliner Radler bestätigen: „Die vietnamesischen Arbeitskräfte kaufen viele Räder auf. Das kann man ihnen auch nicht verdenken: In Vietnam kann man vom Verkauf eines Fahrrads ein Jahr leben. Aber unsere Leute reagieren aggressiv. Dabei haben früher Amis und Franzosen von den alliierten Streitkräften das gleiche gemacht.“

Ich schwinge mich wieder auf meinen Drahtesel. Es muß ein eingefleischt antikommunistischer Esel sein, denn er sorgt schon wieder für die richtige Dramaturgie: Nach einigen 100 Metern reißt der Zug der Handbremse. Vor einer nahegelegenen privaten Werkstatt ist die Schlange etwa 30 Meter lang. Die Werkstatt mit angeschlossenem Ersatzteilladen soll äußerst gut gehen. Grimmig radle ich vorbei.

Im betonierten Herzen der City warten schon Lothar, Joachim und Detlef, drei Radler von der Ostberliner „Interessengemeinschaft Verkehrsökologie / Radfahrverkehr“. Jedenfalls nennt sie sich vorläufig so, denn wegen der hiesigen Kommunikationsschwierigkeiten haben sich die verschiedenen Bezirksinitiativen und Umweltgruppen noch nicht so richtig und formell unter dem Dach der „Grünen Liga“ zusammenschließen können. Berlinweit zählt die Interessengemeinschaft rund 100 Leute, und bekannt gemacht haben sich die Grünen Radler mit ihrem - auch von der Grünen Partei und dem Neuen Forum unterzeichneten - Aufruf zu Fahrraddemonstrationen, die seit Januar jeden ersten Sonntag im Monat um 15 Uhr am Alex starten. Motto: „Alle Macht den Rädern“ und „Radfahrer haben nichts zu verlieren außer ihren Ketten“. Die letzte Demo am 4.Februar mit fast 5.000 Radlern warb außerdem „für Radspuren und Tempo-30-Zonen“.

Blut und Wasser

und Trabi-Gestank

Daß diese Forderungen nötig sind, beweist sich haut- und blechnah auf unserem Trip durch die City. Freiheit und Abenteuer auf den Betonboulevards, Blut und Wasser schwitzen im Trabi-Gestank. Wenn man unter die Räder kommen will, empfiehlt sich besonders der Spurwechsel, zu dem viele Kreuzungen mit ihren Rechtsabbiegerspuren nötigen.

Doch es gibt auch noch andere Spuren: die von Honecker persönlich. Die dichtbefahrene Greifswalder Straße, eine der Radialen Ost-Berlins, gehörte zu der von seinem Troß befahrenen „Protokollstrecke“. Kein Bordstein und kein Blumentopf durfte dort ohne Genehmigung von ganz oben verändert werden, aber für neue Fassadentünche wurde stets gesorgt - eine Kulissen-DDR ganz für Erich allein.

Wie wäre es denn nun mit einer Protokollstrecke für die Radfahrer? Wenigstens mit einer klitzekleinen? Lothar zeigt auf die breiten Autospuren: „Da mit Farbe einen Radstreifen abzutrennen wäre nun wirklich kein Problem.“ Joachim hat dafür schon mal nachts mit einer Knotenschnur die Straße vermessen und eine Projektskizze eingereicht. „Für ein Radwegenetz fehlt hier das Material und die Technik“, sagt er, „Radstreifen sind billiger und besser, denn mit Radwegen auf Bürgersteigen gerät man in Kollision mit Fußgängern und dem Verkehr aus den Ausfahrten. Das entscheidende Manko ist aber, daß die Farbe nicht hält. Zwei- bis dreimal jährlich muß sie erneuert werden.“

Typische DDR-Probleme, kleine zähe Alltagswidrigkeiten einer Bürgeriniative. Noch wichtiger ist den „Verkehrsökologen“ jedoch der große Wurf: eine alternative Verkehrspolitik. Allein mit der Propagierung des Drahtesels sei der Trend zur Autogesellschaft DDR, der nun durch die über die Grenze rollende westdeutsche Blechlawine noch mehr beschleunigt wird, nicht zu stoppen. „Ein sanfter Tourismus, wie wir ihn wollen, braucht noch viel mehr Fußgänger- und Radübergänge und den Ausbau des unzureichenden öffentlichen Nahverkehrs. Eine Mindestmaßnahme sollte sein, daß die im Osten gekauften Fahrscheine auch im Westen gelten und umgekehrt. Viele Familien können eure Fahrpreise nicht bezahlen und steigen dann aufs Auto um.“

Denn trotz der mitunter 15jährigen Wartezeit auf einen Trabant kommen in der DDR auch schon etwa 220 Personenkraftwagen auf 1.000 Einwohner. Zum Vergleich: In West-Berlin sind es etwa 300 auf 1.000, in der BRD bald 450. „Doch noch hätten wir die Chance, andere Wege als eure Autobahnen einzuschlagen“, sagt die Verkehrsinitiative. Denn noch ist das Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Verkehr, inklusive Bahn, in der DDR sehr viel günstiger als im rasenden Westen: In der Personenbeförderung entfällen 40 Prozent auf den öffentlichen Verkehr, in der BRD weniger als 20. Und der Güterverkehr schreibt geradezu Traumzahlen: 79 Prozent befördert die Bahn, in der BRD sind es nur 25. Dennoch sind die Radler nicht gerade optimistisch: „An allen Ecken und Enden fehlt das Geld, den öffentlichen Verkehr auszubauen. Die Straßenbahn hier ist zwar im Prinzip ein wunderbares Verkehrsmittel, aber sie ist zu alt, zu laut, zu langsam, es gibt zuwenig Fahrzeuge und Fahrer. Vor allem die Bewohner unserer Satellitenstädte kommen ohne Auto fast nicht ins Zentrum.“ Also setzen sie fürs erste auf ein Sofortprogramm, das den Verkehr beruhigt, Radfahren sicherer macht und billig ist: „Radanlagen auf allen Hauptverkehrsstraßen und Radialen, Tempo 30 auf allen Nebenstraßen.“

Und bei wem setzt man das durch? Stöhnend zählen die Verkehrsökologen das Kompetenzwirrwarr der immer noch übermächtigen Bürokratie auf: „Büro für Verkehrsplanung im Berliner Magistrat. Stadtbezirksräte. Entwurfs- und Ingenieursbüro für Straßenwesen EIBS. Bezirksdirektion Straßenwesen. Verkehrspolizei. Stadtgartenämter. Hauptauftraggeber HAG Straßenbau. Straßenbaukombinat, Tiefbaukombinat, Energiekombinat. Kommission für Verkehr und Nachrichtenwesen im Stadtbezirk. Kommission Umweltschutz und Naherholung.“

Demoliert zum Hauptingenieur des Verkehrsministeriums

Ich danke und radle weiter zum Verkehrsministerium. Wieder durch die Hölle der City, dann durch Nebenstraßen, die aus einer Aneinanderreihung von Löchern bestehen und Fragen nach der Priorität des Verkehrswesen in der DDR-Planwirtschaft eigentlich schon erübrigen. Mit dem kaputten Rücklicht und der gerissenen Bremse solidarisiert sich nun auch noch die Gangschaltung mit einem Streik. Außerdem beginnt es zu regnen, die Schreibstifte in meinem Anorak laufen aus und bilden große, nasse Flecken. Demoliert von oben bis unten stehe ich vor dem Ministerium für Straßenwesen und geniere mich.

In einem der Büros sitzt Sylvia Klopp, eine aufgeschlossene junge Dame mit dem wuchtigen Titel „Hauptingenieur Verkehrsorganisation der Hauptverwaltung Straßenwesen“. Die Forderung nach Ausbau von Radanlagen findet sie „sehr unterstützenswert“. „Mit dem Berliner Magistrat sind wir auch nicht so sehr zufrieden“, bekennt sie, die Radverkehrskonzeption für die Bezirksräte sei „immer wieder steckengeblieben“.

Ihr Ministerium könne da aber leider auch nicht viel tun. Zwar hätte sich seine Rahmenkonzeption in den letzten Jahren von „Verkehrsflüssigkeit“ hin zu „Verkehrsberuhigung im Nebennetz“ und von der „Priorität Kfz-Verkehr“ hin zur „Berücksichtigung aller Verkehrsbedürfnisse“ verlagert. Aber das Ministerium habe nur für Transit und Autobahnen die Oberhoheit, die regionale Verkehrsplanung liege in der Kompetenz der örtlichen Staatsorgane und Bezirksräte, die „territoriale Konzeptionen“ zu entwickeln hätten.

Sie selber ist an einer Zusammenarbeit mit Bürgerinitiativen „sehr interessiert“. Aber: „Eine flächendeckende Verkehrsberuhigung überfordert oft die Kraft der Kommunen. Und die Verkehrspolizei spricht sich gegen solche Vorschläge wie Tempo 30 auf Nebenstrecken aus.“ Es dennoch mal in diesem oder nächstem Jahr in einigen Städten auszuprobieren sei derzeit in der Diskussion - „aber das hängt davon ab, ob wir Partner in den Kommunen finden“.

Das ist jetzt überhaupt so eine Sache mit dem Planen. Zwar schießen nun in der ganzen DDR die Bürger- und auch Verkehrsinitiativen aus dem Boden, aber die örtliche Planbürokratie ist entweder noch die alte oder gänzlich lahmgelegt. Und: Wer bestimmt denn eigentlich die zukünftigen Prioritäten? Das zentrale Ministerium? Die neu entstehenden Regional- und Kommunalverwaltungen? Oder gar, über den Druck des Geldes, das Bonner Verkehrsministerium und seine Autolobby? CSU-Minister Zimmermann wird die deutsch-deutsche Kommission „Verkehrswege“, die am 9. Januar zur Bewältigung der innerdeutschen Besucherströme gegründet wurde, sicherlich nicht mit der Streichung aller Autobahnpläne und einem Radnetz längs der neuen grünen Grenze beglücken.

Auch Professor Glißmeyer, Leiter des „Zentrums für Personenverkehr und Netze“ im „Zentralen Forschungsinstitut für Verkehrswesen“, sieht die Gefahr, daß hier „Bedingungen diktiert und implizite Festlegungen getroffen werden“. Das dem Ostberliner Verkehrsministerium angegliederte Institut hat die Aufgabe erhalten, eine neue Gesamtverkehrskonzeption „unter den Bedingungen des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten“ zu entwerfen. Der „Umweltproblematik“ möchte der Professor einen „hohen Wert“ einräumen und auch die bestehenden Prämissen für den öffentlichen und den Güterverkehr erhalten wissen. „Aber das wird schwer werden, auch wenn wir Verbündete in Bürgeriniativen und den neuen Parteien suchen. Allerdings wird der beste Verkehrsplaner den Nachholbedarf an Autos nicht aufhalten. Dennoch wollen wir die Autos aus dem Berufsverkehr herauszudrängen versuchen und auch den Radfahrern gegenüber etwas gutmachen. Denen ist in den 60er und 70er Jahren der Todesstoß versetzt worden.“

Spremberg, Cottbus, Neu

brandenburg: Radlerhochburgen

Übrigens nicht überall. In Dessau, dem „Eldorado des Radverkehrs“, strampeln sich mehr als die Hälfte aller Verkehrsteilnehmer auf dem Fahrrad ab. Eine Radbroschüre, überreicht im Verkehrsministerium, weist auch für andere Städte beachtliche Zahlen auf: 41 Prozent Radfahrer in Spremberg, 31 Prozent in Cottbus, fast 20 Prozent in Zittau und Neubrandenburg.

„Früher sind wir in den Behörden immer belächelt worden, wenn wir unabhängige Radwege forderten“, wird später beim ersten deutsch-deutschen Umwelttreffen in West-Berlin ein Cottbuser aus einer kirchlichen Umweltgruppe erzählen. „Jetzt finden wir offene Türen.“ Zwei „Verkehrsökologinnen“ aus Halle sehen den allgemeinen Trend jedoch sehr viel pessimistischer: „Die Leute bilden sich ein, etwas für die Ökologie getan zu haben, wenn sie sich ein Westauto kaufen.“

Mit meinem demolierten Fahrrad radle ich zurück gen Westen. Das einzige kurze Stück Radweg Richtung Übergang Bornholmer Straße stammt noch aus der Vorkriegszeit: Schlaglöcher, Einbrüche, Verwerfungen. Über West-Berlin bricht dann die Dunkelheit herein. Horrortrip durch die Hauptverkehrszeit: Es regnet und stürmt, ich schwimme, sehe nichts mehr, die Prachtlimousinen rasen und spritzen, keulen mich fast um. Die Rettung ist nah: eine Werkstatt. Tiefgekühlt triefe ich durch den Laden. „Machen Sie doch nicht so einen Dreck! Was wollen Sie? Tut mir leid, unsere Werkstatt ist voll.“ Tja, der goldene Westen.