Düsseldorf staunt: Essen wird Modestadt

Textil-Center „Estex“ mit 600-Betten-Hotel und Bürogebäude geplant / Japanische Kirschblütenträume für den Strukturwandel im Revier / Kritiker der Modestadt Düsseldorf geben dem Projekt keine Chance / Essens PlanerInnen setzen dagegen auf belebende Konkurrenz  ■  Von Bettina Markmeyer

Essen bekommt ein neues Herz. Umringt von einer Corona aus 2000 japanischen Kirschbäumen wird es dort schlagen, wo jetzt noch das Grugastadion steht: das „Euro-Herz für die Modewelt“, wie die 'Westdeutsche Allgemeine‘ (WAZ) jubelte. Im sauberen Süden, an der Autobahn 52 und in unmittelbarer Nähe zur Messe Essen soll auf einer Fläche von 200.000 Quadratmetern das Essener Textil-Center „Estex“ entstehen: Ein hundert Meter hoher Turm, in dem Modefirmen „aller Natio -nen“ ihre jeweils neuesten Kollek-tionen zeigen und das ganze Jahr über an den Einzelhandel verkau-fen, ergänzt von einem „Büro-Cen-ter“ und einem „Top-Hotel“. Ein fünfgeschossiges Parkhaus und ein „gigantischer, unterirdischer Auto-port“. Tief beeindruckt versprach die WAZ den EssenerInnen „einen Gleichklang von Kommerz, Mensch und Umwelt“, wenn das neue Strukturwandel-Wunder erstWirklichkeit werde.

Ganz konspirativ hatte sich der Messe-Aufsichtsrat am vergang-enen Wochenende zu einer Sonder-sitzung nach Bremen zurückgezo-gen. Einen Tag später erfuhren SPD und CDU von dem, so Messechef Günther Claaßen, „größten Bauvorhaben der Nachkriegszeit“ in ihrer Stadt. Und während die Grünen noch nörgeln, daß man ihnen die Pläne bisher nicht vorgestellt habe, schmeißen die Macher mit den Zah-len künftiger Erfolge bereits jetzt um sich.

650 Millionen DM sollen „Estex“ und der „Messe-Garten“ insgesamt kosten. 1993 soll alles fertig sein. Von den sechs Investoren ist bisher nur zu erfahren, sie seien „namhaft“. Auf 45.000 Quadratmeter Nutzfläche im 100-Meter-Turm sollen sich künftig die Kollektionen von 130 „Top-Firmen“ stapeln, die - glaubt man den „Estex„-Machern - angeblich schon Schlange stehen. Das Hotel wird über 600 Betten verfügen, das Bürogebäude bietet 15.000 Quadratmeter Fläche. 300 Millionen Mark Umsatz mit Mode und 30 Millionen aus dem Hotelbetrieb sollen der Stadt 15 Millionen DM Gewerbesteuer pro Jahr einbringen. Neue Arbeitsplätze wird es auch geben: 6.000 während der Bauphase und später 2.300. Und als hätte er sie bereits im Säckel, freut sich der Stadtkämmerer über die 60 Millionen Mark, die der Verkauf des Riesengrundstücks an den Kölner Baukonzern Strabag bringen soll.

Bevor „Estex“ gebaut wird, muß jedoch das Grugastadion abgerissen werden. Den Abbruch des 1963 eingeweihten und keineswegs baufälligen Leichtathletikstadions hatten CDU und SPD schon im März 1988 beschlossen, um so das teure Gelände im Süden zu Gewerbefläche machen zu können. Die Planung für das den LeichtathletInnen versprochene Ersatz-Stadion geht „zu Lasten des Essener Nordens“, so die Grünen. Mitsamt den bei solchen Bauprojekten vorzusehenden üblichen Parkplätzen soll die neue Sportstätte nun zwischen Altenessen und Stoppenberg in den Helenenpark hineingebaut werden, der für den dichtbebauten und industriell stark belasteten Norden fast die einzige grüne Zuflucht ist. Noch vor der letzten Kommunalwahl hatte der damalige Oberbürgermeister Peter Reuschenbach die Aufregung in der Stadt um den Abriß des Grugastadions zu dämpfen versucht und von einer Sanierung gesprochen. Das ist inzwischen vergessen.

Schon im März soll der Rat „Estex“ absegnen. Oberstadtdirektor Kurt Busch will „schnell ans Werk“. Oberbürgermeisterin Annette Jäger schwärmt beglückt vom „Aufbruch in die Zukunft“, der so ganz in die Zeit neuer Revier-Initiativen passe, sogar von einem Transrapid -Anschluß für „Estex“ in Richtung Flughafen Düsseldorf ist die Rede. Der Essener 'Südanzeiger‘ begab sich zur Basis und wurde im Rüttenscheider „Schinkenkrug“ fündig. Die Mannschaft an der Theke war sich einig: „Mit 'Estex‘ - das läuft!“

Die Miesmacher sitzen in Düssel-dorf. Dort findet viermal im Jahr die europaweit größte Messe für Da-menoberbekleidung (DOB), die „Igedo“ statt. Vom neuen „Euro-Herz für die Modewelt“ erfuhr die Branche aus der Zeitung und prophezeite ihm sogleich den Infarkt. Für weitere Modemessen sei in der Bundesrepublik kein Platz, verkündeten die Düsseldorfer Messegesellschaft „Nowea“ und „Igedo„-Chef Manfred Kronen. Im Raum Düsseldorf gibt es bereits zwei Textil-Zentren, ein drittes mit 70.000 Quadratmeter Fläche im nahegelegenen Neuss ist im Bau. Und diese Kapazitäten seien noch längst nicht ausgebucht. Daß in der Modestadt vertretene Firmen ausgerechnet in Essen, 50 km von Düsseldorf entfernt, weitere Räume anmieten würden, hält man dort für „ausgeschlossen“. „Ich jedenfalls“, ließ Kronen die Essener Mode-Macher wissen, „würde mein Geld eher in eine Frittenbude an der Gruga investieren als in „Estex“.

Wie man denn in Essen mit 6000 prognostizierten Einkäufern 300 Millionen Mark Umsatz im Jahr machen wolle, rätselte Roman Schubert, Geschäftsführer des DOB-Verbandes. Am brennendsten aber interessiert die Modeleute, welche 130 „Top-Firmen“ Essen an Land gezogen haben will. In den Düssel -dorfer Modezentren und auf der „Igedo“ sind nämlich seit langem die großen Namen aus dem Inland vertreten. „Und selbst die ausländischen Firmen“, so Schubert, „gehen dahin, wo der Markt ist, und der ist in Düsseldorf“.

Eine Düsseldorfer Zeitung beschwor bereits den „Modekrieg“. „So ein Quatsch“, polterte der Esse-ner Messe-Chef Claaßen, „Neid-hammel“ blökte die 'WAZ‘. Die Es-sener haben keine Angst vor Düssel-dorf. Konkurrenz, belehrten sie die Modemetropole, belebe schließlich das Geschäft. Für August Möller, Geschäftsführer des Bundesverban-des für den Textileinzelhandel (BTE) kommt „Estex wie ein Witz aus heiterem Himmel“. Und er fügt hinzu, das neue Textil-Center sei offensichtlich „an der Branche vorbeigeplant“, nie-mand sei informiert gewesen. Klaus Steilmann, der mit 1,5 Milliarden DM Jahresumsatz größte DOB-Hersteller Europas aus Wattenscheid prognostizierte, eine weitere Zersplitterung nütze nicht der Modeindustrie, sondern allenfalls den Pla -nern von „Estex“.

Für die Essener ist Wattenscheid aber, obwohl Nachbarstadt, weit weg. Essen liegt, erst recht mit „Estex“, im Herzen Europas - und „Estex“ bringt Essen eben ins Gespräch. Daß das die wichtigste Nebensache beim Strukturwandel im Revier ist, hat man im Frühling vergangenen Jahres von den Oberhausenern lernen können. Die hatten die ganze Welt verrückt gemacht mit ihrem „World Tourist Center“, einem gigantischen Disneyland, das kanadische Investoren auf eine ehemalige Thyssenfläche zaubern wollten. Das Projekt scheiterte schließlich an seinen dubiosen Finanziers. Aber Investoren aus aller Welt wußten anschließend, wo Oberhausen liegt.