„Und dann alle Parteitage durch...“

■ Eine Abiturientin der Ostberliner Friedrich-Engels-Schule über die zögerlichen Veränderungen im Lehrplan / „Wir haben Angst, daß die alten Strukturen klammheimlich wiedereingeführt werden“ / Früher waren alle Geschichtslehrer in der SED

Im DDR-Bildungssystem geht es seit der Wende rund. Kein Wunder, wurden doch in den Schulen und Universitäten bisher die künftigen Staatsbürger erzogen und deren Weltbild geformt. Das bisherige Kernfach „Marxismus-Leninismus“ wurde nach dem Umschwung rasch an Schulen wie Hochschulen ausgesetzt und aus den Lehrplänen gestrichen. Währenddessen arbeitet man in den zentralen Verwaltungen und Leitungen fieberhaft an neuen Konzepten. Die Schüler haben nach einem kurzen Aufatmen jetzt bereits wieder Angst, daß bald alles wie vorher ist. Die taz hatte Gelegenheit, mit einer Klassensprecherin der Oberstufe der Ostberliner Friedrich -Engels-Schule in Friedrichshain über die Veränderungen zu sprechen.

taz: Wie sah vor der Wende die Organisation der Schüler aus?

Michaela Marx (Name von der Redaktion geändert): In der Klasse - vor allem an der EOS - war eine Mitgliedschaft in der FDJ Voraussetzung. Da gab es dann eine FDJ-Leitung, an der Schule selbst gab es eine Grundorganisationsleitung, und die lenkte die FDJ-Leitung.

Außerhalb der FDJ gab es keinerlei Möglichkeit, Einfluß zu nehmen oder mitzubestimmen?

Nein, das war völlig unmöglich, man konnte schon froh sein, wenn man überhaupt auf einer EOS aufgenommen wurde.

Du bist jetzt Klassensprecherin einer 12.Klasse (d.i. in der DDR die Abiturklasse, d. Red.). Wie schnell haben die Schüler nach der Wende reagiert und auf ihre Rechte gepocht?

Ziemlich schnell, unsere EOS war eine der ersten. Die Mehrzahl der Schüler war voll dafür, daß die FDJ nicht mehr die Schülervertretung stellt. Dann kamen die ersten Austritte aus der FDJ, und wir haben gesagt, die FDJ kann nicht mehr unsere Interessen vertreten. Wir haben uns überlegt, Klassensprecher zu wählen - das wußten wir von drüben, daß es da so etwas gibt - und die Idee fanden wir gut. Pro Klasse sollten es ein bis zwei Leute sein, und die wurden dann in geheimer Wahl gewählt. Die ein bis zwei Leute gehen regelmäßig in eine Art Schülerrat - der tritt öfters zusammen, wenn es Probleme gibt. Von diesem Schülerrat gehen jede Woche zwei oder drei - wir delegieren die nicht mehr so wie früher, weil wir von diesem Prinzip wegkommen wollen zum Dreißigerrat von Ost-Berlin. Da sitzen Vertreter von allen Erweiterten Oberschulen, damit wir in Kontakt bleiben und auch erfahren, was an anderen Schulen läuft. Ein Beispiel war vor kurzem, daß bei uns der Stabü-Unterricht plötzlich wieder zensiert werden sollte...

Stabü-Unterricht ist „Staatsbürgerkunde“ und bei euch eines der zentralen Fächer?

Früher war Staatsbürgerkunde so, daß man mit Hilfe der Philosophie - Marximsus-Leninismus - praktisch die Politik von unserem Staat untermauert hat. Das heißt, wir haben irgendwelche dialektischen Gesetze gelernt und dann die Frage untersucht, wie unsere Partei die Gesetze verwirklicht hat.

Wie lange wurde dieses Fach unterrichtet?

Früher sieben Jahre, da war es auch Abitur-Prüfungsfach. Jetzt ist es kein Prüfungsfach mehr, denn was soll man noch prüfen, es ist ja alles über den Haufen geworfen worden. Es gibt jetzt nur noch ein Zeugnis mit Zensur. Momentan ist es den Lehrern freigestellt, was sie mit uns machen in Staatsbürgerkunde. Früher konnte man nicht Geschichts- oder Staatsbürgerkundelehrer werden, ohne SED-Mitglied zu sein.

Hat sich daran etwas geändert?

Naja, heute muß man kein Mitglied mehr sein. Ob nun ein Lehrer, der jahrzehntelang irgendetwas verkündet hat, nun plötzlich etwas ganz anderes lehren kann, mag dahingestellt sein. Zumindest merkt man bei den Staatsbürgerkundelehrern, daß sie vorsichtig sind, damit wir ihnen nichts nachweisen können.

Und ähnlich sieht es vermutlich im Geschichtsunterricht aus?

Ja, sehr ähnlich. Der Lehrplan wurde außer Kraft gesetzt; zum Beispiel in der Abiturstufe war vorgesehen, von 1848 an die Geschichte durchzunehmen in den zwei Jahren. Im 12.Schuljahr hätten wir nur noch die Geschichte der DDR gemacht, von der Gründung weg, und dann alle Parteitage durch, das wäre das normale Programm gewesen.

Was macht ihr statt dessen jetzt in Geschichte?

Das ist mehr oder weniger von oben angeordnet worden, da die Basis eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus gefordert hat, heißt es jetzt, die Geschichtslehrer werden eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus machen. Der erste Gag war aber, daß wir natürlich überhaupt keine Materialien haben. Das heißt, wir sitzen ohne Lehrbücher und Unterlagen da. Wir fragten dann, wie das vonstatten gehen soll, und als Antwort bekamen wir „Lehrervorträge oder so etwas“. Wir haben dann zwei Stunden Sowjetunion gemacht, und für DDR haben wir auf Drängen der Schüler noch eine Stunde drangehängt, denn wir wollten weiterdiskutieren. Das heißt, wir haben uns drei Stunden lang mit Stalinismus in der DDR beschäftigt, und das ist einfach ein Witz. Bei der SU -Geschichte war es so, daß unser Lehrer beteuert hat, er habe von nichts gewußt. Er fagte uns dann, was wir wissen, und wir saßen dann da, denn was konnten wir schon wissen. Sie brachten dann ein paar Fakten: Ab dem Zeitpunkt, wo Lenin krank war, hat das dann Stalin übernommen, und das hat sich so entwickelt, und keiner wußte, was das für ein böser Mann war. Bei der DDR haben wir dann erfahren, daß sie als ehemalige Besatzungszone nur wenig Möglichkeiten hatte, und die Genossen konnten ja gar nicht anders, und mehr ist dann nicht passiert.

Euch als Schülern ist das zu wenig, was sind eure Forderungen?

Wir möchten gern mehr Hintergründe machen, auch im zweiten Halbjahr, damit man endlich einmal weiß, wie das alles zusammenhängt, auch mit der Sowjetunion. Das wurde aber abgelehnt, es hieß, man wolle uns auch etwas Allgemeinbildung beibringen. Es bringe uns sowieso nichts, darüber noch weiter zu diskutieren. Für uns ist aber die Vergangenheitsbewältigung unheimlich wichtig, und viele haben Angst, daß sich die Strukturen von vorher wieder klammheimlich ausbreiten. Vielleicht nicht gerade mit einem MfS, aber wenn man sich nie damit auseinandersetzt, wie soll sich denn das Denken der Leute ändern?

Habt ihr auch die aktuelle Entwicklung in der DDR in der Schule besprechen können?

In den ersten 14 Tagen nach dem Umschwung bei uns war es wirklich so, daß wir auch in Biologie nur noch diskutiert haben. Dann gab es die Anweisung, jetzt werde überhaupt nicht mehr diskutiert, denn wir müßten unseren Stoff durchbekommen. Über die aktuellen Themen sprechen wir jetzt noch in Staatsbürgerkunde, aber das hat sich auch schon wieder abgeschliffen.

Werden die Lehrer auf Fortbildungen geschickt, um ihr eigenes Weltbild ein wenig aufzumöbeln?

Unsere Geschichtslehrerin war vierzehn Tage auf einem Kursus, ansonsten ist mir aber nichts bekannt.

Wollt ihr euch denn wehren dagegen, daß jetzt alles wieder seinen gewohnten Gang geht?

Das mit dem Wehren ist so eine Sache. Unsere Lehrer argumentieren so, daß wir unser Abitur machen, und da brauche man Allgemeinbildung. Nun ist es aber bei uns auch nicht so sehr üblich, sich zu wehren.

Interview: Kordula Doerfler