SO WILD WAR DER OSTEN

■ Worüber man sich noch vor kurzem den Kopf zerbrach

Clemens rührte mit dem Strohhalm in seiner Zitronenbrause. Du wirst doch nicht behaupten, sagte Sabine, die Schauspielerei sei keine Kunst? Genau das will ich behaupten, sagte Clemens, wegen ihrer Ineffizienz. Wenn man sich selbst erst mal auslöscht. Kunst ist Protest, höchster Einsatz des Selbst. Er wischte jegliche Parallelität zwischen Kunst und Schauspielerei mit den Haaren aus seinem Nacken. Warum geht er jetzt wie Handke, dachte Cora, mit diesen vor die Ohren gelegten Balken. Warum muß einer immer wie einer gehen. Uli ging wie Foucault und nicht nur Uli. Peter ging wie Uli, und Stefan ging wie Peter, und Frankophilie strahlte von ihrer Glatze ab. Du siehst aus wie ein anderer, in diesem Fellini hatte Valentina eine Rolle gehabt. Valentina war Liza Minelli, und Marcello war Fred, und Lukacs sah aus wie Groucho, als er noch aussah wie ein kommunistischer Revolutionär. Ich finde, du hast was von Jeanne Moreau, sagte Heiner zu Cora, ihre trotzigen Lippen vielleicht. Ich finde eher von Ava Gardner, sagte Irene, etwas in deinem Blick. Die Zehen, dachte Cora, jedenfalls von BB, die Schuhgröße von Catherine Hepburn, dazu ihr alterndes Herz. Wie schön ist es, eine Kopie zu sein, aus diesem Satz hatte Cora ihren Schlachtruf für die Kunst gemacht.

Mit einem rauhen Handtuch fährt sie über das Stoppelfeld ihrer Haut. Als Lilly Marleen, sagte Sabine, hat sie mir gar nicht gefallen, überhaupt seine späten Filme, zu schnell gedreht, zu billig erzählt. Alice in den Städten dagegen, wenn Vogler dieses Lächeln austrägt, das dann in die Kamera läuft. Lüge, rief Clemens, alles Lüge, diese Geschichten der Sprachlosigkeit! Kein Wunder, Wenders‘ Vater ist Zahnarzt, dem steht der Mund immer auf. Wo's um das richtige Wort geht, um Wahrheit und Philosophie. Wahrheit, lachte Levy und fiel in die Stuhllehne zurück, das ist wirklich das beste. Jetzt kommen die aus dem Westen und bringen uns die Wahrheit zurück, wo wir um ihre Abschaffung kämpfen. Das haben sogar wir schon kapiert, daß alles Sicht ist und Winkel. Und ich sage Lüge, Clemens ballte die Hände zu Fäusten und drückte die beiden Knöchelreihen aneinander, das ganze Geschwätz um Pluralität. Er warf sich herum im Stuhl, riß das rotweiße Tischtuch mit. Pluralismus dient nur der Erhaltung der Macht, wenn jede Meinung erlaubt ist. Die Dampfwürste, bitte, kommentierte der Kellner von oben und rückte das Tischtuch gerade. Er plazierte die Teller ordentlich karokonform. Wenn ich ein Bild male, sagte Levy, weiß ich doch nachher nicht, was das soll. Ja eben, das nenne ich Blindheit, bestätigte Clemens, alle Maler sind deshalb dumm. Ich muß um mehr Ruhe bitten, sagte der Kellner, es sind noch andere Gäste im Raum.

Du bist also Dichter, Levy setzte die Gabel auf seine Currywurst. Wasser spritzte ihm an die Brille. Dichter, kicherte Clemens der vom Tellerrand witschenden Wurst hinterher. Dann magst du auch sicher Büchner, wir wollen zum Revolutionsjahr nämlich Danton inszenieren. Ausgerechnet den, diesen Revolutionsverräter, Lustprediger und Konsequenzverächter. Clemens holte die Wurst zurück. Ausgerechnet Büchner, den obersten Peinsack, den es tot zu vernichten gilt. Er nahm Aufstellung vor ihr. Das ist wirklich unglaublich. Aus Levys Mund trat das Wasser aus. Du sprichst wie unser Bezirkssekretär. Verweichlichter Dekadent, Konterrevolutionär und so weiter. Das ist uns alles bekannt. Ich mag ihn, weil er das Leben mochte, weil's ihm um das Menschliche ging. Menschliches, jaulte Clemens, und eine Fontäne stieg vor ihm auf, das ist ein schmackhaftes Wort. Ihr aus dem Westen könnt das leicht lächerlich machen, Levy führte seine aufgespießte Wurst durch die Luft, wir erleben das hier ja täglich, daß man vor lauter Prinzip zuletzt den Menschen vergißt. Clemens ließ das Besteck gegen den Tellerrand fallen. Als ob der Mensch etwas an sich wäre und nicht hart getrieben sein müßt‘.

Levy resignierte ins Schweigen, legte fünf Mark auf den Tisch, Clemens hielt Demark dagegen. Ich brauche dein Geld nicht, Levy schob es in Richtung Clemens zurück, ich lade dich ein, das ist bei uns hier so üblich. Hör auf, Clemens‘ Kopf wurde rot, laß es mich bitte bezahlen. Auf keinen Fall, Levys Schläfen waren eckig und dunkel, wenn du mich nicht beleidigen willst.

Die Wurst baumelte schwer im Magen. Sie schlichen eng an den Hauswänden entlang, weil es den üblichen Berlinregen regnete, der im Osten noch dunkler war. Die Regentropfen hatten auf dem Weg herunter Asche gefunden, jeder einzelne legte jetzt seine Ladung geräuschvoll auf der Straße ab. Wie Klappmesser schnellten die Soldatenbeine vor dem Mahnmal gegen den Faschismus in die Höhe, Gewehr bei Fuß schwenkten sie parallel zu der Säulenreihe, zogen in Richtung wartendes Auto ab, von wo eine neue Soldatenreihe heranklappte. Das Mahnen wird bei uns bestens bewacht. Auf Levys Nickelbrille waren kleine transparente Beulen. Das Brandenburger Tor stand nässebleich auf seinen leeren Beinen in der Nacht.

Warum rennst du denn so, sagte Levy zu Clemens, wir haben Zeit, es eilt nicht bei uns. Weil ich immer so renne, antwortete Clemens, normalerweise gehe ich noch schneller, soll ich dir mal zeigen, wie ich sonst immer geh‘? Federnd setzte er seine schwarzen Militärstiefel über die Pfützen, um den Kopf hatte er den Jackenkragen gelegt.

Ich gehe absichtlich langsam. Levy schaltet noch einen Gang runter, um mehr von der Welt zu sehen. Und Clemens von vorne: Ich seh‘ genauso viel, wenn ich renne. Genau das hat unser System dem eurigen voraus, Tempo, Tempo und noch mehr Tempo, während eures von der Idee her sicher das bessere ist. Aber die Schlangenstehernatur, auf die man den Menschen hier reduziert, kann ja wohl nicht der anthropologische Endzweck sein.

Ich finde, man lebt in der Langsamkeit intensiver, skandierte Levy, indem man alles bewußt tut, was man tut. Clemens heulte auf wie ein Koyote. Die Lektion von der Tasse Tee, sogar die habt ihr gelernt. Ich bin für Reize und noch mehr Reize, das geht ab und ist geil, mehr Musik und noch mehr Kanäle. Er drehte sich hart auf dem Absatz um. Niemals sehe ich fern, hielt Levy dagegen, selbst euer Westfernsehen macht einen blöd. Clemens sprang mitten hinein in die Pfütze. Nichts macht irgendwie blöd, tanzten die kopflosen Beine, alles klärt immer und irgendwie auf, Volksaufklärung bei Axel Springer, das muß man kennen, nur deswegen bin ich überhaupt in der Stadt.

Levy hob seine weißen Knopfstiefel in elegantem Schwung über die Pfützen, während Clemens jetzt absichtlich mitten in die Lachen hinein trat, ich sitze den ganzen Tag vor der Glotze, plantsche, glotze american TV, glotze football, rugby und baseball, das ist ein mordsmäßiger Spaß. Halt, halt, rief Levy und deutete auf die Trambahn, wir nehmen die hier zum Prenzlauer Berg.

Clemens blickte auf, blickte herüber zu Cora, und sie erkannte, daß er dachte wie sie, dachte an die Zeit vor zehn Jahren, dachte an Cora synchron: Als wir damals zur Schule, Schulter an Schulter und Haare im Haar und die Blicke ineinander verfangen, sind wir nicht zur Schule gefahren. Blieben wir sitzen, als der Schaffner die Haltestelle ausrief, bogen um die Kurve auf den kreischenden Schienen und warfen die Schule dort ab. Wir bogen um die Kurve des grauen Tages und stießen in Freiheit vor. Lateinstunden verflossen mit Chemiestunden, eilige Wolken löschten die Kreidestriche der Nonne aus. Obacht, war sie dort im Klassenzimmer am krächzen und fuchtelte mit ihrem Spazierstock herum, links oben in die erste Zeile römisch eins arabisch eins, Test, und wen ich erwische, der bekommt eine Sechs. Die Wange unter dem Heftpflaster zuckte. Milchiges Löwenzahngift fuhr ihnen ins Blut: Finger unter der Grasnarbe, zogen Mistkäfer durch die Pupille. Auf dem hellen Gebirgswasser wandelte das Leben vorbei. Sie griffen nach seinen Rockschößen und liefen mit und machten die Lust kinderleicht. Wie die anderen jetzt ihre Kugelschreiber zerkauten und Ralf seinen Rechner unter das Comic-Heft schob, Schwester Pia durch die Gänge schlurfte, obacht, daß ihr mir nicht die Vorzeichen verwechselt, abschreiben lassen ist falsch verstandene Freundschaft, da rollten sie über die Wiesen und drehten Himmel und Erde in eins.

Was kostet ein Fahrschein hier, fragte Clemens und schüttelte die Nässe von seiner Kunstlederjacke ab. Zwanzig Pfennig, antwortete Levy und kurbelte Fahrscheinbänder aus dem Schlitz eines Blechkastens, dessen Farbe an vielen Stellen abgesprungen war. Was ist, wenn man nicht zahlt? Nichts ist, nicht zahlen gibt es hier nicht, wie es weder Aids noch Luftverschmutzung hier gibt. Die Trambahn ratterte durch die Nacht, die gegen die Fenster drückte und noch schaudern ließ hinter dem Glas. Immer waren Straßenbahnen ihr Bett gewesen, dachte Cora, über den Punischen Kriegen fielen ihr immer die Augen zu. Könige und Cäsaren verteilte sie an den Haltestellen neben den Schienen. Ich will dich testen, hatte Nicola plötzlich gesagt, der westfälische Friede, was hat der in der Geschichte gebracht? Du weißt es nicht, je eben, keiner weiß das in Deutschland, weil keiner es wissen will. Die Tschechoslowakei ist von der Landkarte verschwunden, wie später Polen verschwand. Alle Deutschen wissen, wer Karl V. war, bei ihm ging die Sonne nicht unter, das reden sie alle daher, aber keiner weiß, daß Karl IV. die erste deutsche Universität gründete in Prag.

Sie betraten den Plattenladen in der Schönhauser Allee. Ich kauf‘ mir die modern talking, sagte Clemens, komisch, sagte Levy, die kaufen jetzt alle, sieben Mark für 'ne Single, das ist doch so viel wie bei euch, ich kauf‘ mir lieber 'ne Langspielplatte, da kriegste was für dein Geld. Scheiß auf das Geld, erwiderte Clemens, die Platte hab‘ ich zu Hause, das Cover ist's, das ich möchte. Wo ist mein Geld, begann er plötzlich zu zappeln, als sie zwischen dampfenden Regenmänteln langsam zur Kasse vorrückten. Mein Geld ist weg, meine Ruhe ist hin, ich finde mein Geld nicht mehr.

Die dampfenden Regenmäntel wichen zur Seite. Such erstmal ganz ruhig, Levy wollte in Clemens‘ Taschen greifen, aber Clemens wich erschrocken zurück. Was heißt hier ganz ruhig, ich habe alles durchsucht, das Geld ist einfach futsch. Clemens fingerte in Gesäßtasche und Brusttasche, zog Schlüssel und Ausweise hervor, leerte die Plastiktüte, leerte Pflasterstrand und Diapositive der Macht auf den Verkaufstisch. Überrascht blickte die Verkäuferin auf. Tut mir leid, sächselte sie, Machtdiskurse kennen wir nicht, diese Bücher führen wir nicht, kann ich nicht abkassier'n. Such nochmal ganz in Ruhe, sei nicht so fahrig, so unkonzentriert. Was heißt hier unkonzentriert, kreischte Clemens, ich bin total konzentriert, er drehte die Arme wie eine Krake, drehte wie ein in die Fliehkraft geratener Kreisel aus seiner Mittelachse heraus.

Grüß Gott, sagte er zum Paßkontrolleur an der Grenze, der sich hinter der Scheibe zur Ansicht bot. Entschuldigen Sie, gaben die leeren Lippen zur Antwort, den haben wir längst abgeschafft. Die Augen des Kontrolleurs hefteten Clemens‘ Kopf zwischen ihre beiden Schienen, zeigen Sie mal Ihre linke Seite her. Lange durchbohrte er die Sicherheitsnadel, die in Clemens‘ Ohrläppchen hing. Fünf Mark in den Schlitz zwischen Scheibe und Holzwand, dann klickte die Tür im Schloß und wieder saß ein Kopf in einer Vitrine, der Geldscheine spuckte und fraß. Was mach‘ ich mit diesem Spielgeld, Clemens winkte mit den Scheinen an den überraschten Zollbeamten vorbei. Fünfundzwanzig Mark Eintritt bezahlt, sagte er nun und sank langsam in sich zusammen, kein schlechter Preis für diesen Staat. Dann eben nicht, dann eben keine modern talking, hab‘ sie ja eh zu Haus.

Yellow river, dachte Cora, bei yellow river hatte er sie aus dem Beatkeller gezerrt, komm, unser Lied, komm, wir tanzen zusammen. Sie folgte ihm aufs Parkett, folgte seinen verbogenen Schritten. Einen yellow river für Cora, stand unter dem Bild mit dem gelben Fluß. Sie stützte ihren Mund auf seine flaumige Lippe und strich durch sein kastanienbraunes Haar. Graue Strähnen hatte er jetzt, als er sich über die karierte Tischdecke beugte, das Fünfdemarkstück aufhob und in seine Jeanstasche gleiten ließ.

Michaela Ott