Müde Morde

■ Zu Ingomar von Kieseritzkys „Anatomie für Künstler“

Die Helden des Ingomar von Kieseritzky sind Unglücksraben von Natur und aus Passion. Mit sicherem Griff greifen sie meist genau daneben, verlieren ihre Frauen, ihre Freunde, verschleudern ihr Bankguthaben an einem einzigen Nachmittag in einem luxuriösen Damenwäschegeschäft.

Mit großangelegten Strategien bemühen sie sich ein ums andere Mal, der Katastrophe Herr zu werden. In dem Roman Die ungeheuerliche Ohrfeige oder Szenen aus der Geschichte der Vernunft schließen sich die vom Pech verfolgten Protagonisten zu einer Philosophengemeinschaft zusammen und bereisen die Welt, um das Gute zu finden und die Menschheit zu bessern. In den Romanen Obsession - ein Liebesfall und Trägheit oder Szenen aus der vita activa ziehen sich die an Herz und Seele erkrankten Helden in eine Klinik zurück und notieren ihre Nöte sorgfältig in einem „Schmerzwörterbuch“. Fast alle Helden Kieseritzkys schreiben, um ihren privaten oder den allgemeinen Weltzustand zu verbessern: Die beiden Tramps Sam und Couff arbeiten auf ihren Reisen im Roman Tief oben an einer Oligophrenie der europäischen Fürstenhäuser. Im Buch der Desaster, das im letzten Jahr erschienen ist, begleitet der Erzähler Kelp den todkranken Schriftsteller Brant auf einer Frankreichreise und führt dabei eine Art Katastrophentagebuch, um seinen Gönner mit einer umfangreichen Auflistung diverser Mißgeschicke zu erfreuen und der menschlichen Gesamtkatastrophe mit wissenschaftlicher Genauigkeit auf den kranken Leib zu rücken.

Doch egal, was die armen Kerle auch treiben: Es hat natürlich keinen Erfolg. Und soll es auch nicht haben. Am Ende obsiegt in allen Fällen des Autors pechschwarze Sicht der Lage und seine virtuos komische Handhabung derselben. Das Muster ist bewährt und wird von Kieseritzky inzwischen Buch für Buch standhaft wiederholt.

So auch in seinem neuesten Buch Anatomie für Künstler. Diesmal heißt der Pechvogel Max Marun und ist ein Mörder. Gemordet hat er Alfred Senkel in einer Badewanne, auf schlichteste Art und Weise: Er hielt einfach seine Beine in die Luft. Eine ganz und gar harmlose Methode verglichen mit den sonst in diesem Buch ausgelegten Drahtschnüren, Brieföffnern, Särgen und Eisenkäfigen, die unschuldigen Müttern, unbescholtenen Priestern und ernstzunehmenden Wissenschaftlern Seite um Seite zum Verhängnis werden.

Nachdem die Helden Kieseritzkys sich bisher mit der Verschriftlichung und Rubrizierung der Katastrophe zufriedengegeben hatten, machen sie nun mit ihren verzweifelten Späßen ernst und werden zu Mördern. „Jeder Mensch“, so heißt es gleich auf der ersten Seite, „hat im Laufe seines Lebens mindestens alle drei Tage einen Mordgedanken.“ Nur eine „entwickelte Ethik als System“, so heißt es weiter, wäre imstande, Gedanke und Tat nachhaltig voneinander zu trennen. Doch in Zeiten, in denen der Mord im großen Stil oder in kleinen Raten überall auf uns lauert, in denen die Luft verpestet, die Nahrungsmittel vergiftet und der Straßenverkehr zum Schlachtfest geworden ist, in diesen Zeiten tun sich auch die zynischen Intelligenzler Kieseritzkys keinen Zwang mehr an und morden, was die Schreibmaschine hergibt. Und das ist ziemlich viel. Eine entwickelte A-Moral als ausuferndes Un-System war seit jeher die satirisch gewendete Antwort Kieseritzkys auf die vom Sinndefizit angefressenen, öden Zustände; in der Anatomie für Künstler treibt er dieses künstliche Spiel nun systematisch auf die Spitze.

Max Marun sitzt in einer Klinik für neurotische Mörder und versucht sich zu erinnern: Wie es zu dem Mord kam, wie das Leben mit der launischen Laura war, wie seine Berliner Neurotiker-Freunde ihr Geld verdienten und ihre Zeit verbrachten, wie Onkel Marun in seinem 100-Zimmer-Schloß in England ein Symposion zur Rettung der Welt veranstaltete, in dessen Verlauf der Mörder Marun und das Opfer Prof.Senkel im Badezimmer mit bekanntem Ausgang aufeinandertrafen. Das Hauptproblem des Helden: Die Erinnerung versagt ihm den Dienst, die Ereignisse verwirren sich, sein Geist ist derangiert. Also schreibt er das Buch als eine Art Erinnerungsarbeit, als Konstrukt einer phantastisch imaginierten Vergangenheit.

Sein Arbeitsprinzip ist die programmierte Abschweifung. Nach dem Vorbild sämtlicher Kieseritzkyscher Chaosverwalter versucht auch Mörder Marun immer wieder seine inneren und äußeren Abgründe duch ein kompliziertes System penibler Ordnungsstrukturen und pseudowissenschaftlicher Begriffe zu überdenken. Zettelkästen, Stichworttabellen, der wortgetreue Rapport seiner Korrespondenz, der ausführliche Bericht verschiedenster Histörchen, die dem Autor zugetragen wurden oder seiner imaginären Sammlung unerhörter Begebenheiten entstammen - nichts bleibt unversucht, doch alles vergebens. Heraus kommt ein groteskes Sammelsurium absurder Kabinettstückchen, so überaus detail- und personenreich ausstaffiert, daß Leser und Mörder alsbald die Übersicht verlieren und sich nurmehr von Kuriosität zu Kuriosität fortbewegen. Die Idee einer Systematik parodiert sich auf diese Weise selbst, wird zu einem systematisch herbeigeführten Un-System, das immer erneut beweisen soll, daß Groteske und Chaos zwar nach Ordnung, nach dem Fachbegriff, dem Wissenschaftskongreß verlangen, doch alles, was mit ihnen in Berührung kommt, mit ihrem Virus infizieren, destruieren, chaotisieren.

Übrig bleibt ein Netz skurriler Einfälle und makabrer Geschichten, deren phantastischer Witz im wesentlichen auf den recht soliden Grundpfeilern klassisch literarischen Humors beruhen: auf dem unkommentierten Nebeneinander wichtiger und unwichtiger, banaler und vermeintlich bedeutender Ereignisse, auf der Umwertung aller Werte, der systematischen Verdrehung der Moralbegriffe und schließlich auf der peniblen Zusammenstellung der Extreme. So mietet der Kunstfälscher Pluto beispielsweise ein 240 Quadratmeter großes Atelier, um darin winzige Miniaturen mit einem Maus -Schnurrhaar zu fertigen und im übrigen alles zu fälschen, was der breite Kunstverstand begehrt. Der Dichter Hermattinger eröffnet eine therapeutische Schreibwerkstatt, um dort junge Selbstverwirklichungsfanatiker für gutes Geld vor sich hindilettieren zu lassen; und der Muttermörder Dreiziger erdrosselt seine Mama einzig, um ihre Wohnung zu beziehen.

Der Beispiele ist kein Ende, und im Strudel der endlosen Skurrilitäten hat man beim Lesen mehr und mehr den Eindruck, sich in einer Werkstatt für experimentell erzeugte Witze zu befinden, in der hart und mit großem Ernst gearbeitet wird.

„Herrgöttchen noch eins“, ruft dem Autor ein mitfühlender Freund und Kollege in der Mörderanstalt zu, „was muß das für eine Erleichterung für Sie sein, alles im Leben inkl. Leben experimentell auffassen zu können.“ Ein Ruf, dem man sich anschließen kann. Eine Erleichterung muß es sein, mit Worten zu experimentieren, ohne vom Gewicht ihres materialen Anhängsels, ohne von ihrem Wirklichkeitsbezug belastet zu werden. Eine Erleichterung, alles von seiner wahren, von seiner absurden Seite sehen zu dürfen, ohne von der Logik des Tatsächlichen ständig zur Raison gebeten zu werden. Eine Erleichterung schließlich, endlich so böse sein zu dürfen, wie man wirklich ist und es nie sein darf. Den Beischläfer der Freundin ermorden, Kongreßteilnehmer beim Pinkeln erdolchen, Priester in Käfige sperren - alles auf dem Papier und in Romanform. Ganz und gar unblutig.

Am Ende - nachdem alle Therapieversuche am lädierten Helden gescheitert sind, nachdem die Einflüsterungen des Priesters, die erotischen Bemühungen der Freundin und die alkoholhaltigen Care-Pakete seines Dichterkollegen nichts genutzt und Marun sein Gedächtnis nicht zurückgebracht haben - löst sich alles wie von selbst. Das Schloß des Onkels, das Symposion zur Weltverbesserung und der nackte Prof.Senkel in der Badewanne, alles, alles fließt Marun plötzlich spielend und mühelos in die Feder. Das Buch hat seinen Zweck damit erfüllt und ist zu Ende. Zurück bleibt ein bedenklich stimmender Berg von Leichen: Prof.Senkel und die meisten Neurotiker-Freunde Maruns sind tot, sein Vater ist beim Absingen nazistischer Lieder im Altersheim verbrannt, der Kardinalskidnapper Enzo Ferrer von seiner eigenen Käfigkonstruktion erschlagen, Onkel Marun verendet, seine Dienerschaft wohlpräpariert in Sarkophagen im Schloßkeller zur Schau gestellt. Tote, wohin man blickt. Morde in serieller Ausfertigung: Zweckfrei, amüsant, kunstgerecht und schmerzlos. Ein Schauerroman für freie Geister - mit wenig Schauer und leidlich viel Roman. Soviel, daß man am Ende wünscht, es sei der Scherze nun genug, und Marun möge doch endlich diese Witzmaschine abstellen und nicht immer noch mehr dieser absurden Geschichten aus seiner Taschenspielertasche zaubern. Geschichten, die letztlich alle gleich klingen. Ermüdet und verwirrt wünscht man sich, es möge doch endlich etwas Wirkliches passieren: zweckvoll, ernst, wahrheitsgerecht und schmerzhaft. Zum Beispiel ein Mord: „Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen thun kann, wir haben schon lange so kein gehabt.“

Iris Radisch

Ingomar von Kieseritzky, Anatomie für Künstler, Klett-Cotta, 234 Seiten, 36 DM