Fieberhafte Diplomatie

Polen, Tschechoslowakei und Ungarn suchen eine neue Machtbalance in Mitteleuropa  ■ G A S T K O M M E N T A R

Lange vor dem Umbruch des Herbstes '89 in der DDR dachte man in Ostmitteleuropa über neue politische Konstellationen nach, mit denen das sowjetische Imperium aufgeweicht bzw. das nach seinem zu erwartenden Zerfall entstehende Machtvakuum gefüllt werden könnte. Solche Überlegungen waren meist sehr sympathisch, spekulativ und ein bißchen wirklichkeitsfremd zugleich. So zum Beispiel die vor zwei Jahren vom späteren polnischen Senator Edmund Jan Osmanczyk vorgetragene Idee einer Konföderation zwischen den beiden deutschen Staaten und Polen. Ihr lag der Gedanke zugrunde, einerseits mit Hilfe des polnischen Reformdrucks die DDR politisch zu öffnen und den Deutschen zu einer für sie erträglichen Form des Zusammenlebens zu verhelfen, andererseits die ökonomisch potenten Deutschen auch im Osten einzubinden. Es war ein Versuch, durch Anknüpfen an einst miteinander verbundene Wirtschafts- und Kulturräume Mitteleuropa ein spezifisches Gesicht zu geben, das vor allem auf einem deutsch-polnischen Ausgleich beruht.

Seit die Bewegung hin zur deutschen Einheit in beschleunigtem Tempo verläuft und der Warschauer Pakt politisch kaum noch funktioniert, ist für die kleineren Länder Ostmitteleuropas das Problem des Kräftegleichgewichts in dieser Region noch dringlicher geworden.

Anfang des Jahres trat eine Warschauer Zeitung mit der Idee einer polnisch-tschechoslowakischen Konföderation an die Öffentlichkeit. Zvuor hatte Zbigniew Brzezinski einen Essay publiziert, in dem er an Gespräche erinnerte, die während des Krieges zwischen dem tschechischen Präsidenten Benes und General Sikorski in diesem Sinne im westlichen Exil stattgefunden hatten. Allerdings ist es mit der Umsetzung von Literatur in Politik nicht so einfach - die neue Prager Führung betrachtete den Vorschlag als gegenstandslos, stehen doch ihre Chancen für die ersehnte „Heimkehr nach Europa“ unter einem günstigeren Stern. Im Unterschied zu Polen hat sie eine direkte Grenze zum Westen, zudem steckt Tschechen und Slowaken trotz der Intervention von 1968 nicht in gleichem Ausmaß der „russische Komplex“ in den Knochen. Die Forderung nach Rückzug der sowjetischen Truppen ist vor allem aus Prag und Budapest zu vernehmen. Warschau ist zu größerer Vorsicht gezwungen, um Gorbatschow nicht noch mehr Schwierigkeiten zu verursachen.

Gleichwohl ist nun aus Prag von einem neuen Konföderationsplan zu hören. Diesmal ist an die Donauländer Österreich und Ungarn als Partner gedacht. Aber auch in diesem Falle scheinen eher sentimentale Erinnerungen an frühere Anhänglichkeit Pate zu stehen.

Wo liegen die Ursachen für diese fieberhafte Diplomatie? Alle diese Länder waren bis vor kurzem Satelliten der mächtigen Sowjetunion. Nun suchen sie nach einer regionalen Balance im mittelosteuropäischen Raum. Dahinter steckt die begründete Sorge, angesichts der deutschen Dynamik und der Unsicherheit der weiteren Entwicklung in der Sowjetunion für geraume Zeit vom europäischen Integrationsprozeß abgehängt zu werden. Besonders Polen, das schon vor Gorbatschow die Ablösung des kommunistischen Systems einleitete, ist ins Hintertreffen geraten.

Es liegt in unserem eigenen Interesse, daß die deutsche Selbstbezogenheit bald überwunden wird. Nach den Wahlen in der DDR brauchen wir eine aktive Ostpolitik. Wirtschaftlich -soziale Destabilisierungen in dieser Region, verbunden mit weiterer Verschärfung der ohnehin katastrophalen ökologischen Situation in diesen Ländern, könnten spontane Ost-West-Wanderbewegungen auslösen, gegen die 2.000 DDR -Übersiedler pro Tag eine Bagatelle sind.

Ludwig Mehlhorn

Der Autor lebt in Ost-Berlin, ist Mitglied der Oppositionsgruppe „Demokratie jetzt“ und sitzt für die Gruppe am Runden Tisch.