Der sozialistische Sonnenstaat

Ein Besuch in der Ostberliner Stasi-Zentrale / „Was jetzt ans Licht kommt, ist der Kopf der Hydra“ / Aneinandergelegt zwölf Kilometer Stasi-Akten / Täglich räumen 600 bis 700 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz / Nur in der Abteilung Auslandsaufklärung wird noch gearbeitet  ■  Aus Ost-Berlin Wolfgang Gast

Die Spuren des „Stasi-Sturms“ in Ost-Berlin sind immer noch nicht beseitigt: Kaputte Glasscheiben im Reisebüro, ein verwüsteter Frisiersalon und eine Kaufhalle, in der die Lebensmittel vor sich hin schimmeln. Wiewohl in Sicherheitspartnerschaft zwischen Bürgerkomitee und Volkspolizei versiegelt, ist heute noch im Haus Nummer 18 des Gebäudekomplexes des Staatssicherheitsdienstes in der Normannenstraße zu sehen, wie sich am 15. Januar der Bürgerzorn entlud, als Tausende die Schaltstelle des Geheimdienstes stürmten und damit seine umgehende Auflösung erzwangen.

„Was jetzt ans Licht kommt, ist nur der Kopf der Hydra“, sagt Hannelore Köhler. Sie ist Sprecherin des Bürgerkomitees, das sich unmittelbar nach dem Sturm auf die Zentrale gebildet hat. „Wir haben zwar Listen“, meint sie, aber über Gebäude, Struktur und Ausrüstung des früheren Ministeriums im Bezirk Lichtenberg „sind wir immer noch nicht genau informiert“.

Über 600 Objekte haben die ehrenamtlichen Stasi-Auflöser allein in Ost-Berlin aufgelistet. Täglich kommen neue dazu. Die letzte Meldung, die am Montag im improvisierten Pressebüro des Bürgerkomitees eintrifft: Außerhalb Berlins entdeckte die Arbeitsgruppe Informatik - eine von acht Gruppen des Komitees - einen zwei Meter tiefen Bunker mit elektronischen Anlagen, als sie die Standleitungen der Rechneranlage aus der Zentrale des Statssicherheitsdienstes zurückverfolgte.

Gearbeitet wird nicht mehr

Gearbeitet wird beim Stasi, dessen Personalsstand DDR-weit 85.000 hauptamtliche Mitarbeiter betrug, nicht mehr. In den untergeordneten Bezirksverwaltungen ist die Auflösung am weitesten fortgeschritten. An die 70 Prozent der Mitarbeiter wurden mittlerweile dort entlassen. Anders in der Hauptstadt. Hier waren bis zum 15. Januar über 33.000 Mitarbeiter in 31 Abteilungen beschäftigt. Bis zum letzten Donnerstag wurden etwa 14.000 die Entlassungspapiere in die Hand gedrückt. Grüppchenweise werden die Ex-Agenten jetzt wieder zu ihrem alten Arbeitsplatz geführt, damit sie ihre persönlichen Habseligkeiten packen. Zuvor müssen sie unter den Augen der Kontrolleure die von ihnen aufgehäufte Akten und elektronischen Datenträger sortieren, verpacken und übergeben.

Der gigantische Materialberg wird in den über 40 Gebäuden des Komplexes Normannenstraße zentral gelagert. Über die Auswertung wagt zur Zeit niemand nachzudenken. Es ließe sich auch gar nicht bewerkstelligen. Würden die Papiere aneinander gelegt, ergäben sie eine Strecke von ungefähr zwölf Kilometern. Stasi-Haus für Stasi-Haus wird im Bezirk Lichtenberg freigeräumt.

Bis Ende Mai sollen die „entscheidenden Strukturen“ der früheren Staatssicherheit gründlich zerschlagen werden. Mehr können die hundert Mitarbeiter des Kommitees, die von ihren Betrieben bei Weiterzahlung ihrer Gehälter freigestellt wurden, auch nicht leisten. Sie wollen ihre Arbeit erst einmal bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März fortführen. Die weitere Auflösung des Amtes ist dann zwar Sache einer demokratisch legitimierten Regierung, aber ohne den Sachverstand der Ehrenamtlichen wird es auch dann nicht gehen.

Taschen

werden durchsucht

Auf die entlassenen Stasi-Leute wartet das „Aus“. Beim letzten Gang durch den einzigen Zugang - einer eisernen Doppeltüre im Stasi-eigenen „Oskar-Ziethen-Krankenhaus“ durchsuchen Volkspolizisten ihre Taschen. Sie verhindern, daß die Ex-Agenten Gerät oder belastende Akten aus dem riesigen Komplex herausschleppen.

Täglich räumen 600 bis 700 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz und lösen ihre Gehaltskonten bei der Stasi-eigenen Sparkasse auf. Seit dem 8. Februar 1950, dem Gründungstag der Staatssicherheit, war ihnen immer wieder eingebleut worden, daß sie „das Schwert der Partei“ wären und ihre Arbeit an der Front gegen den Imperialismus unersetzlich sei. Dafür gibt es nun nicht einmal eine Rente. Nach Anzahl der Betriebsjahre und der Höhe ihres Gehaltes erhalten die Stasi -Leute eine einmalige Abfindung zwischen 500 und maximal 7.000 Mark. In der Regel liegen die Beträge zwischen 2.500 und 3.000 Mark. Das entspricht in etwa drei Monatsgehältern eines durchschnittlichen DDR-Arbeiters. Was danach kommt, ist völlig offen. Die Betriebe weigern sich, ehemalige Stasi -Mitarbeiter einzustellen, und die marode DDR-Wirtschaft kann die 85.000 Bediensteten nicht ohne weiteres einstellen. Weil eine gesetzliche Regelung zur sozialen Absicherung der Geschaßten nicht existiert, sind die früheren Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes die ersten real-existierenden Arbeitslosen im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat.

Die 90 Gebäude der Ostberliner Geheimdienstzentrale sollen einer zivilen Nutzung zugeführt werden. Auch die „Untersuchungshaftanstalt“ in der Magdalenenstraße in unmittelbarer Nähe des Hauptquartiers. Sie war eines von drei Gefängnissen, wo die Stasi ihre Opfer gefangen hielt. Objektkommandant Major Langerjahn verwaltet derzeit den Knast mit einer „Notbesatzung“. Von seinem Vorgänger, einem Oberst der Stasi, bekam er die Schlüssel in die Hand gedrückt zusammen mit der Aussage, daß die letzten Gefangenen erst im Dezember entlassen oder verlegt wurden. Was sich in dem Gebäude vorher abspielte, sagte ihm keiner.

Von seinem Amtszimmer aus kann er über zwölf Kameras die Gänge und Winkel des Gefängnisses überwachen, in dem bis zu zweihundert Häftlinge untergebracht wurden. An den Wänden laufen heute noch überall Drähte, die bei Berührung einen elektrischen Impuls auslösen, der sämtliche Türen in dem 1907 gebauten Knast sofort schließt. Die baulichen Sicherungsmaßnahmen entsprechen auch nicht denen der regulären Strafvollzugsorgane. Major Langerjahn schließt daraus, daß die Stasi mit einem erheblichen Personalaufwand das Gefängnis bewachte. Das Gebäude wird jetzt vom Innenministerium übernommen und muß umgebaut werden. Als erstes will Langerjahn die „Tigerkäfige“ im Hof abreißen, in denen die Häftlinge in 20 Quadratmeter großen Betonparzellen nur einzeln Hofgang hatten. Überdacht sind die Laufzellen in drei Meter Höhe mit Maschendraht, darüber gibt es nur noch Laufstege, von denen aus die Stasi-Leute die Häftlinge überwachten.

Wer als abgeurteilter Strafgefangener im Stasi-Knast untergebracht war, hatte es vergleichsweise noch gut. Mit sieben anderen war er in Gemeinschaftszellen mit einem gemeinsamen Aufenthaltsraum untergebracht. Die Untersuchungshäftlinge kamen dagegen in einen vierstöckigen Gebäudetrakt, wo sie jeweils zu zweit in zwei mal vier Meter große Zellen mit offener Toilette und Holzpritschen eingepfercht wurden. Statt Fenster gab es nur Glasbausteine. Auf kürzestem Wege konnten sie von dort in einen der dreißig Vernehmungsräume gebracht werden, die allesamt mit einem Tresor und Telefon ausgestattet waren. Was hinter den schalldichten Türen vor sich ging, wird Major Langerjahn kaum erfahren. Keiner der ehemaligen Stasi-Wärter wird in den Dienst der Justizvollzugsanstalt übernommen.

Gearbeitet wird bei der Stasi nicht mehr - mit einer Ausnahme: der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA). In einem modernen Hochhaus im Komplex Normannenstraße angesiedelt, wird dort die „Aufklärung“ des Auslandsnachrichtendienstes weiter betrieben. Dieser Bereich ist auch der Kontrolle des Bürgerkomitees entzogen, beim Fortschreiten der Auflösung soll er nur ausgelagert werden.