Grüne stampfen Gewalt-Broschüre ein

Julius Schoeps, Professor für deutsch-jüdische Geschichte, wirft der Publikation „antisemitische Stereotypen“ im Stile des 'Stürmers‘ vor  ■  Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Über ein Jahr fiel die Broschüre der Grünen Wider Gewalt gegen Frauen und Mädchen nicht weiter auf. Jetzt wird der Rest der 5.000 gedruckten Exemplare eingestampft. In einem Eilbrief vom 30.1.1990 an alle Landes- und Kreisverbände ließ Bundesgeschäftsführer Eberhard Walde den Weitervertrieb stoppen. Fünf Tage zuvor hatte ein Artikel in der 'Zeit‘ die als Mitherausgeber firmierenden Vorstände der Grünen in Bonn und Düsseldorf aufgeschreckt. Die Publikation der Grünen verwende „antisemitische Stereotypen der übelsten Art“, die „auch Streichers 'Stürmer‘ alle Ehre gemacht hätten“, schrieb Prof.Julius H.Schoeps, Leiter des Steinheim Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Uni-Duisburg, in seinem 'Zeit'-Beitrag. Der Text suggeriere, „Juden seien Kinderschänder“, und Sexualverbrechen an Kindern sei ein „typisch jüdisches“ Verbrechen.

Die Autorin Beate Bongartz, Frauenreferentin der NRW -Grünen, hatte versucht, sexuelle Gewalt gegen Mädchen „in allen Kulturen und Zeiten“ zu dokumentieren. Dabei hatte sie auf den jüdischen Talmud verwiesen, der diese Gewalt „besonders drastisch“ zum Ausdruck bringe. Laut Bongartz befand schon der Talmud, daß der Geschlechtsverkehr mit Mädchen unter drei Jahren „kein Verbrechen“ war, denn dieser Geschlechtsverkehr „zählte nicht“. Diese Schlüsse zog Frau Bongartz, ohne je den Talmud oder dessen Kommentierung studiert zu haben. Zitate, die, so Schoeps, „aus dem Zusammenhang gerissen und entstellt wiedergegeben“ wurden, entnahm sie ausschließlich der Sekundärliteratur. Das könnten nur „antisemitische“ Quellen gewesen sein, befand der Professor. Vielleicht sogar das Nazi-Hetzblatt 'Stürmer‘, in dem „immer wieder behauptet worden ist, der Jude vergreife sich nicht nur an vorpubertären Kindern, sondern er scheue auch nicht davor zurück, Kleinkinder zu mißbrauchen“. Den Vorwurf, den 'Stürmer‘ als Quelle benutzt zu haben, weist Frau Bongarts „empört“ zurück. Sie schöpfte aus dem Buch von Florence Rush, das 1982 unter dem Titel Das bestgehütete Geheimnis: sexueller Kindesmißbrauch erschienen ist. Inzwischen bereut sie den „unsensiblen Umgang“ mit dem Thema, bedauert die Formulierungen, „die zu Mißverständnissen Anlaß geben konnten“. Beim Schreiben „war mir das nicht klar“. In der Neufassung der Broschüre will sie auf den Bezug zum Talmud verzichten.

Der Bundesvorstand bedauerte in einer Erklärung „den fahrlässigen Umgang mit Zitaten aus Sekundärliteratur, deren Quellen und Glaubwürdigkeit nicht geprüft wurden“. Die Argumentation in der Broschüre lege „den Vorwurf 'antisemitischer Stereotype‘ nahe“ - auch „wenn der Autorin und den HerausgeberInnen diese Absicht fernlag“. Zudem „bedauerte“ der Bundesvorstand, daß ihm selbst als Herausgeber die unsäglichen Passagen nicht früher aufgefallen waren und „uns die kritische Auseinandersetzung“ erst durch den 'Zeit'-Artikel „aufgezwungen werden mußte“. In einem Leserinbrief an die 'Zeit‘ versprach Gisela Wülffing, die Kritik ernst zu nehmen und kündigte für den Bundesvorstand einen Diskussionskreis an, der sich „mit feministischer Theorie im Zusammenhang mit christlichem Antijudaismus befaßt“. Die Grünen müßten sich „der Erkenntnis stellen, daß es nicht nur einen bewußten, sondern auch einem unbewußten Antisemitismus gibt, der viel schwieriger zu benennen und zu bekämpfen ist. Er wurde in unserer Gesellschaft mitgeliefert.“

Solchen Reflexionen widmet der Landesvorstand der NRW -Grünen, ebenfalls Mitherausgeber der Broschüre, in seiner Stellungnahme keine Zeile. Kein Wort des Bedauerns; dem gemäßigten Tadel für die eigene Frauenreferentin folgt vielmehr sogleich der Angriff auf den Kritiker: Zwar verbiete sich in „Kenntnis der Pogrom-Geschichte gegen die Juden“ diese Form des Umgangs „mit dem im Buch von Florence Rush gebotenen Material“, aber „hätte Prof.Schoeps seine eigenen Ansprüche erfüllt, wäre er nicht zu seinen vernichtenden Urteilen über Autorin und Herausgeber gelangt“.