REKONSTRUKTION EINER ZEITFRAGE

■ Tagebuchnotizen vom Herbst '89

Kein Beitrag mit abgerundeter Handlung ist nachfolgender Text. Es sind Tagebuchnotizen. Knapp, lapidar, schwer zu entschlüsseln manchmal, weil ja eigentlich nur für den bestimmt, der sie schrieb, September bis Dezember '89. Der 52jährige Berliner Filmemacher Ulrich Staedtefeld notierte in sein Tagebuch, das Intimste wohl, worin ein Mensch sich offenbart, was ihn bedrückte, ängstigte und befreite in jenen Herbsttagen, in denen sich hierzulande alles veränderte. Keine Reflexionen, Wertungen, Lösungsangebote will er öffentlich machen. Nur meditative Notate, Sentenzen, Versuche einer Selbstverständigung, die nun, mit zeitlichem Abstand, Selbst-Suche ausdrücken. Frau und Töchter bestärkten Ulrich Staedtefeld, seine Notizen unserer Frauenzeitschrift zu übergeben. Bestärkt haben ihn auch der von so vielen Menschen unterschriebene „Appell der '89“, um den es im Tagebuch geht, der Appell „Für unser Land“. Und: das vom SED-PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi unterbreitete „Sicherheitsmodell 2000“...

Vorweggenommenes Resümee, Dezember '89: Noch immer bin ich mit den Geschehnissen des 7./8. Oktober nicht fertig; ich nicht, meine Frau Maria nicht; meine Töchter Karoline und Sophie nicht...

Tagebuch, 29. September '89, Berlin: Unsicherheit, wenn ich meine Werkstatt verlasse; Blaues vom Himmel. Leicht erschöpft. Unruhe, Spannung.

1. Oktober: Was denn aufschreiben? Wieder die Unruhe und Angst, es nicht zu schaffen, und ich habe keinen Grund, über die Scheißpolitik dieser DDR-Führung zu lachen. Sie bemühen sich, aber sie können's nicht besser, und die Scheiße geht auch an uns nicht vorbei... Sie haben Angst für ihren Hochmut... Fluch und Segen, aber kein Grund, sich wichtiger als jede Ameise, Sandkorn, Vogel, Tisch zu nehmen.

3. Oktober: Gethsemanekirche, schnell schlafen... Unruhe, Ungewißheit.

7. Oktober: Früh Arbeit an den Projekteinheiten... Anruf von Sophie und Maria, schnell zur Volksbühne: Zusammenkunft von Theaterleuten, abends „Gegen„-Demo mit vielen jungen Leuten ab Palast der Republik.

8. Oktober: Arbeit am Projektor, Gift kommt hoch.

9. Oktober: das Aufschreiben gestorben, Leben läuft aus, gräßlich.

11./12. Oktober, Neubrandenburg: Liebe Maria! Schnell schlafen. Die Bedeutung: Realitätsbezug der Rätsel, Aufgabe und ihre Lösung im Märchen. Die Lösung liegt wesentlich darin, sich nicht auf die Bedingungen festlegen zu lassen.

12./13. Oktober, Berlin: Daß Maria da ist! ... der Versuch, sich am Rande der schwarzen Löcher zu halten, geistiger Aids! Eisen schreit! Stein schreit! Wie Geduld üben?

15. Oktober: Treffen im DT mit Heiner Müller. Das Mädchen erzählt, als sie auf der Demo verhaftet wurde: (es folgen Äußerungen der Sicherheitskräfte, d. Red.) “... ihr seid ja zu dumm zum Ficken, ... steck dir doch einen Korken ins Loch, wenn du pissen mußt, ... euch müßte man alle erschießen...“ Die (verhafteten) Männer mußten sich nackend ausziehen, und die Frauen/Mädchen wurden an nackten Männern vorbeigetrieben...

24. Oktober: Ich verbrauche (zuviel) Zeit. Übelkeit fast den ganzen Tag...

28. Oktober: Heute Erlöser-Kirche.

4. November: Arbeit. Wie fängt die an. (An die) große Demo aber werden wir denken...!

9. November: Ich habe Angst um unsere Kinder. Ab heute morgen sollen wohl die Grenzen nach dem Westen/Westberlin geöffnet sein.

Nachtrag zum 10. November: Ich fahre mit einem Nachbarn auf dessen Tandem zum Lustgarten. Bin niedergeschlagen. Wenn jemand brüllt: „Schulterschluß“ oder „Mehr Arbeiter in die Regierung“ oder „keinen Sonderparteitag, sondern Parteikonferenz“, „Einheitspartei“, applaudieren sie, auch mit den Füßen.

17. November: Mit Karoline, sie war eben aus Westberlin gekommen. Sie kommt mir unsicher vor. Unvermittelt tut sich diese Untiefe auf: Sie sagt, sie haben drüben gelesen, amerikanische Wissenschaftler hätten errechnet, in 30 Jahren werden die ersten Folgen der Klimaveränderung spürbar werden.

Ich spüre, wie Karoline sich sperrt. Sophie (die Jüngere) spricht wenig. Als das alles anfing, hatte ich wohl geäußert, Opposition schön und gut, (aber) ich muß unsere Arbeit schützen, ich will mit Politik nichts zu tun haben. Ich spüre, wie Karoline fortgeht, als ich wieder die politische Lage erkläre.

...Müde. Es ist nicht zu schaffen. So geht das dann zu Ende...?

Nachtrag zum 18. November: Gegen 3 Uhr aufgewacht. Lag etwa anderthalb Stunden wach, dann aufgestanden. Gegen 6 Uhr auf den Rand eines 'ND‘ geschrieben, den Entwurf eines „Offenen Briefes“ fertig. Die ersten Sätze:

„Wir sind hier aufgewachsen und hier geboren. Wir möchten, daß die DDR das erste Land in der Welt ist, das seine Streitkräfte/Armee ohne alle Vorbedingungen auflöst. Also auf seine militärische Macht verzichtet. Auch ein ganzes Volk vermag unter schwierigen Umständen in wenigen Tagen zu lernen, wozu Jahrhunderte nötig sind: daß die Möglichkeiten zur Gewalt für uns das Unmöglichste und die größte Gefahr sind...“ Und die letzten Sätze: „Das wäre freilich der jetzt fällige, endlich auf die Erde gebrachte Jahrhundertschritt einer tiefgreifenden sozialen Revolution...“

Unterschriften: Sophie Staedtefeld, 16 Jahre, FDJ; Karoline Staedtefeld, 19 Jahre, parteilos; Marianne Staedtefeld, 44 Jahre, SED; Ulrich Staedtefeld, 52 Jahre, parteilos.

Maria tippte 26 Originale unseres „Offenen Briefes“, adressiert an alle Volkskammerfraktionen, an die neuen Oppositionsgruppen, an Leute wie Pfarrer Schorlemmer. Und an die Medien.

27. November: Himmel. Anfang. Aufgegangen. Regen, Regen.

28. November: Da war ich so dumm und hab mich so zu Politik hinreißen lassen...

29. November: Unruhe... Unser Schreiben - zur Auflösung der Streitkräfte - das wir vorgestern angeklebt hatten, war über Nacht abgerissen worden.

Nachtrag zum 6. Dezember: Wir sandten einen Brief an den „Arbeitsausschuß zur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages des SED“.

Auszug: “... Wenn da nicht eine - kommunistische - Kraft ist, die durch historische Initiative uns allen aus der Verstrickung hilft... Spüren Sie denn nicht, wie alles immer schneller zu flüchten beginnt? In den Jugendklubs, so erzählt uns unsere Tochter, das Sinnen, auszuwandern: Bloß weg von Deutschland... Und die Blüte der Intelligenz bastelt weiter verbissen an neuen Ökonomie- und Demokratiemodellen, die sicher alles für sich haben mögen. Nur nicht Seele und Leben. Hat denn diese Partei so gar keine Visionen mehr?“

Einen Brief an Christa Wolf geschrieben. Nicht abgeschickt.

Abends in der „Aktuellen Kamera“: Rosemarie Schuder verliest auszugsweise den „Appell der '89“. Die Kinder, glaube ich, sind doch überrascht, als sie uns so albern durch die Wohnung tanzen sehen: Das ist jetzt unser Appell. Wir dachten schon, wir wären mit unserem kindlichen Kopf allein auf der Welt!

Auf der Kundgebung im Lustgarten am 9. Dezember sind wir zum ersten Male mit eigenem Transparent dabei: „DDR - ein Herz für Deutschland - Abrüstung ohne Vorbedingungen“. Appell der '89.

Flüchtige, zufällige Begegnung mit Christa Wolf und Gerhard Wolf. Unverabredetes Zusammentreffen mit Familie Schuder -Hirsch. Erstmals seit unserem „Offenen Brief“ wieder dieser Anflug von Unsicherheit. Christa Wolf, so will ich empfinden, hat unsere Losung nicht ganz gebilligt. Was weiß ich... Dieser krankmachende Zwang zum „Richtig-Denken“...

Maria und ich in einem Brief:

„An den Sonderparteitag der SED: ... Der Sozialismus ist kein Heerhaufen (Lager), sondern ein Prozeß...“

In der Nacht vom Freitag, 15. Dezember, zum Samstag, 16. Dezember (2. Teil des SED-Sonderparteitages, d. Red.) haben wir Transparente gemalt: „DDR armeefrei“ und „Der sichere Platz an der Sonne - Appell der 89“. In diesem Sinne... zu wenig Schlaf, deshalb kommen wir diesmal erst gegen 8.15 Uhr, schon etwas spät, vor die Dynamo-Sporthalle.

16. Dezember: Müdigkeit. Seelische Müdigkeit. Niedergeschlagen.

17. Dezember: Schon gegen 7.30 Uhr vor der Dynamo -Sporthalle. Klaus (unser Freund), der Fotograf, ist auch gekommen. Nun sind wir zu fünft. Die Parteitagsdelegierten, die uns im Nu zu einer großen Diskussionsgruppe umringt haben, sind freundlich, aber bei vielen spüren wir, sie halten uns für Kindsköpfe.

Jeder hat für sich gesprochen: Sophie, Karoline, Maria, Klaus und ich. Nach anderthalb Stunden, gegen 9 Uhr ... mahnen Parteitagsordner die Genossen, von uns abzulassen, die Sitzung sollte beginnen. Wir waren müde vom Reden. Und unsagbar froh!

19. Dezember: Auf dem Weg vom Alex zur Kundgebung am Platz der Akademie erfahren wir: Gregor Gysi hat sich ebenfalls zum Appell der '89 bekannt. Juhu!!! Eine Vertreterin der unabhängigen Frauenbewegung der DDR spricht. Von Verweigerung... von Frauen, die (ihren) Männern Liebe und Zärtlichkeit verweigern sollten... Aber ich habe, so schwöre ich, vergessen weshalb...

20. Dezember: Es kommt ein Brief von Antje Vollmer, „Die Grünen“ (BRD): “... Ihr offener Brief mit der langen Adressatenliste hat mich sehr beeindruckt. Die Grünen wollen den Wahlkampf im nächsten Jahr unter die Losung stellen: „Entwaffnung der beiden deutschen Staaten“. Besonders gefreut hat mich das übermütige Glücksgefühl in Ihrem Begleitschreiben...“

21. Dezember: Es ruft, erstmals seit der Begegnung bei Frau Schuder, der Initiator des Appells der '89, Dr. Johannes Schönherr an...

Eine innere Stimme warnt: Wie viele neue/alte Gruppen, Initiativen, Parteien, auf Profilierung und Mehrheiten versessen, hintergehen die Anliegen, die sie vorgeben. Und von den Wünschen, die ich frei habe, sollte ich den verbrauchen, der mich davor schützt, das Widerwärtige sehen zu müssen.

Es hat ein Gespräch mit dem DDR-Verteidigungsminister gegeben, sagt Dr. Schönherr (am Telefon).

Aber es ist sicher nur eine Zeitfrage, bis auch die Frauen wirklich beginnen, wirklich zu handeln...