Die Macht auf dem Weg von Partei zu Staat

■ Auf dem ZK-Plenum in Moskau verschärften sich die Kontroversen zwischen Reformern und Konservativen

Fast einmütig stimmte das ZK der KPdSU auf seiner Plenartagung in Moskau für die Streichung des Führungsanspruchs der Partei in Staat und Gesellschaft vorangegangen war eine harte Auseinandersetzung zwischen Reformbefürwortern und Gegnern der demokratischen Umgestaltung. Jetzt ist der Weg frei für einen neuen Wahlmodus: den der Delegierten des Parteikongresses und weiterer Gremien.

In nie dagewesener Schärfe haben sich auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU die Positionen zwischen Hardlinern und Reformbefürwortern polarisiert. Sei es, daß sie aus dogmatischer Prinzipientreue um das Heil der Partei fürchten oder nur um den eigenen Sessel, die Gegner einer demokratischen Umgestaltung der KPdSU von den Grundorganisationen aufwärts sammelten sich zum letzten Gefecht und sparten dabei auch nicht mit persönlichen Tiefschlägen gegen Generalsekretär Gorbatschow.

Daß man das Brett vor dem eigenen Kopf auch in eine Waffe verwandeln kann, bewies vor allem der vor verstecktem Gift triefende Diskussionsbeitrag Jegor Ligatschows, des Hauptes der konservativen Fraktion. Ligatschow versuchte mit einer beiläufigen Enthüllung, den Generalsekretär moralisch zu vernichten. Ebenso wie Außenminister Schewardnadse und das gesamte Politbüro sei dieser schon am 7. April über den zwei Tage später erfolgten Truppeneinsatz in der georgischen Hauptstadt Tbilissi informiert gewesen und habe die entsprechenden Pläne gebilligt. Da bei dem völlig inadäquaten Einsatz gegen friedliche Demonstranten 20 Personen getötet wurden, sei wohl ein Rücktrittsgrund für die gesamte Regierung gegeben gewesen.

Fast im nächsten Atemzug konstatiert Ligatschow: „Weshalb werden Verdächtigungen angeheizt, wozu dienen Hinweise auf eine Verschwörung? Ich habe immer wieder gesagt, daß sie nur einem Ziel dienen: der Ablenkung der Gesellschaft von der Hauptgefahr für die Perestroika, von der zerstörerischen Tätigkeit der Demagogen und politischen Intriganten. Jetzt konzentrieren sie sich ganz und gar auf Michail Gorbatschow und versuchen, den Führer von Partei und Staat zu kompromittieren. Dagegen müssen wir uns entschieden verwahren!“

Schon ganz und gar ohne verbale Vorbehalte widmete sich der sowjetische Botschafter in Warschau, Valentin Brovikow, der genannten Aufgabe: „Es ist in Mode gekommen, für alle unsere Mißstände die Vergangenheit verantwortlich zu machen“, sagte er. „Womit wir aber jetzt konfrontiert sind, ist nicht das Resultat der Stagnation von gestern, sondern der Perestroika. Es ist ein Jammer, daß wir uns nicht von der Macht eines einzelnen Mannes in Partei und Staat lösen können. In weniger als fünf Jahren hat Staats- und Parteichef Gorbatschow das Land in den Vorhof der Krise befördert und es an jene Grenze geführt, an der wir uns Angesicht zu Angesicht gegenüber einer Orgie der Anarchie sehen.“

Und welche Rezepte schlagen die Anhänger der guten alten Zeit vor? Ligatschow, der Agrarexperte des ZK, macht es deutlich: Die Pläne und die Arbeit mit den Genossen an der Basis müssen verbessert werden. Ohne das Wort zu gebrauchen, macht Ligatschow deutlich, daß er in den unteren Parteiorganisationen noch immer „Transmissionsriemen des Zentrums“ erblickt, wenn er auch rein formal Forderungen wie „ein baldigeres Datum für den nächsten Parteitag und demokratische Wahlen der Delegierten für den nächsten Parteitag“ aufnimmt. Die Hauptgefahr für Partei und Staat erblickt Ligatschow darüber hinaus in einem wiedervereinigten Deutschland und in einem „neuen München“.

Ein innerparteiliches Referendum über die Frage der Direktwahlen zum Parteitag forderte der Stadtparteisekretär von Swerdlowsk, Kadotschnikow: „Der Erfolg des Parteitages, das Vertrauen, das man seinen Entschlüssen und den von ihm gewählten Organen entgegenbringt, werden in gewissem Grade durch den Wahlmodus für die Delegierten vorentschieden.“ Kadoschnikow deutet an, daß Ultimaten ein zwar nicht immer feines, aber manchmal unumgängliches Mittel in der Politik seien. Einige Fabrikorganisationen im Ural hielten es durchaus für möglich, ihre Parteibeiträge künftig zurückzuhalten, wenn das Februarplenum solchen Forderungen nicht entspräche.

Neben den Demokratieforderungen der Grundorganisationen zeichnet sich eine zweiter Wunsch nach innerparteilicher Umgestaltung ab, der sich offenbar wie ein Lauffeuer verbreitet hat. So verlangt sogar der konservative ukrainische Parteichef jetzt nach litauischem Vorbild Souveränität für seine Parteiorganisation innerhalb der KPdSU „bis hin zum Entwurf einer eigenen politischen Linie entsprechend den örtlichen Bedürfnissen“.

Sein Diskussionsbeitrag, der streckenweise wie ein Hilfeschrei wirkte, zeigt, daß es vielen lokalen Parteiführern inzwischen längst nicht mehr um Prinzipien geht, sondern daß sie bereit sind, jedem zu folgen, der einen Weg aus dem wirtschaftlichen Chaos weist.

Barbara Kerneck, Moskau