Szenische Rekonstruktionen

■ „Mein Pasternak, mein Schiwago“, heute 22.30 Uhr, West 3 - morgen 20.15 Uhr, N3

Mit einem außergewöhnlichen Film wird ein außergewöhnlicher Dichter geehrt: Mein Pasternak, mein Schiwago heißt eine Koproduktion zwischen der sowjetischen „Videofilm“, der britischen „Antilope Film“ und dem WDR, die anläßlich des 100.Geburtstages von Boris Leonidowitsch Pasternak von West 3 und Nord 3 ausgestrahlt wird.

Dem jungen russischen Regisseur Andrej Nekrasov ist ein sensibles Porträt gelungen: kein herkömmlicher Spielfilm und keine gewöhnliche Dokumentation, sondern die szenische Rekonstruktion wichtiger Lebenssituationen des Dichters. Dabei werden die Spielszenen in der Regel mit Texten von Pasternak selbst oder von Aussagen ihm Nahestehender unterlegt. Nur bei einigen wichtigen Wendepunkten wird der Dialog eingesetzt - in russischer Sprache belassen, durch Untertitel übersetzt. Das sei der Authentizität geschuldet, erklärte der Regisseur, denn diese Szenen seien alle historisch genau belegt - das solle auf diese Weise unterstrichen werden. Als drittes Stilmittel sind Dokumentaraufnahmen in die Spielhandlung hineingeschnitten: Zumindest Szenen aus der Oktoberrevolution und den Jahren danach - Aufnahmen, die größtenteils noch nicht bekannt sind.

Der 1890 geborene Pasternak sah sich selbst als Lyriker doch einem größeren Publikum bekannt machte ihn der autobiographisch geprägte Roman Doktor Schiwago. 1958 wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen - und er wurde dazu gezwungen, ihn abzulehnen. Auf seiner Datscha in Peredelkino nahe Moskau starb der Dichter 1960 - in seiner Heimat verkannt und verfemt, im Ausland geehrt und hochgeschätzt. Der Roman Doktor Schiwago schildert den Kampf des Individuums um freie Entfaltung im Zwangssystem des Sozialismus Stalinscher Prägung. Regisseur Andrej Nekrasov fand seine Träume und Wünsche in dem Werk wiedergefunden - Motivation genug, um mit filmischen Mitteln eine Ehrung des Dichters Pasternak und seiner Figur Schiwago zu versuchen. Die Politik der Perestroika schuf dafür die Voraussetzungen - in ihrem Gefolge wandelte sich auch die offizielle sowjetische Haltung zu Pasternak.

In einer etwa achtminütigen Einleitung zu Mein Pasternak, mein Schiwago schildert Gerd Ruge, langjähriger ARD -Korrespondent in Moskau und ein persönlicher Freund Pasternaks, den Dichter aus eigenem Erleben, berichtet über die Veränderung der offiziellen Haltung gegenüber dem Schöpfer des Doktor Schiwgo in der UdSSR heute, spricht mit jungen Russinnen und Russen über ihr Verhältnis zu Pasternak - ein informativer Auftakt zu einem faszinierenden Film.

Manfred Kellner