Gewalt gegen Kinder

■ Betr.: "Das 'kleine Geheimnis' der Väter", taz vom 3.2.90

betr.: Das 'kleine Geheimnis‘ der Väter, taz vom 3.2.90

(...) Bereits in den Überschriften wird das Problem des sexuellen Mißbrauchs an Kindern eingeengt: Die Opfer sind Frauen und Männer die Täter. Das entspricht der klassisch feministischen Sicht. Folgerichtig erscheint dieser Artikel auf der Frauenseite. Ausgeblendet wird der Mißbrauch männlicher Kinder, die, stimmt das Zahlenmaterial, immerhin 30.000 Opfer pro Jahr in der Bundesrepublik stellen. (...)

In keiner Weise wird der Frage nachgegangen, wie und warum jemand dazu kommt, daß Selbstbestimmungsrecht eines Kindes derart massiv zu verletzen. Die Väter/Täter kommen aus allen sozialen und finanziellen Schichten. Alles klar: Jeder Mann ist ein potentieller Kinderschänder. Es gibt in der Literatur sehr deutliche Hinweise, daß kein Mensch, der nicht als Kind gleiches erlitten hat, sein Trauma auf diese Weise ausagieren muß; jeder, der ein Kind sexuell mißbraucht, ist als Kind seinerseits mißhandelt worden (siehe zum Beispiel: A.Janov, Der Urschrei u.a., A.Miller, Das verbannte Wissen; aufschlußreich ist auch die Geschichte des Kindermörders Jürgen Bartsch, wie sie von H.Stierlin oder A.Miller geschildert wird). Dieses Wissen entschuldigt die Täter nicht; die endlose Fortsetzung dieser täglichen Katastrophen kann jedoch nur durchbrochen werden, wenn die zugrundeliegenden Zusammenhänge wahrgenommen werden.

Da es sich um unaufgelöste Kindheitstraumen handelt, bringt der Mißbrauch den Tätern alles andere als die Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse, wie die Bildunterschrift des (ansonsten treffenden) Fotos suggerieren will, sondern zwingt ihn zu fortgesetztem Agieren. Eine Auflösung erfolgt erst dann, wenn der Täter den Schmerz über seine eigene Mißhandlung fühlen und wiederleben kann. Umso törichter erscheint es mir, gerade die männlichen Opfer auszuklammern.

Auch der Frage, warum Frauen dieses Verhalten dulden, stillschweigend hinnehmen oder darüber hinwegsehen, muß nachgegangen werden. Der Hinweis auf die emotionale und ökonomische Abhängigkeit erklärt nichts. Es gibt tatsächlich Frauen, die in eben solchen Situationen Partei für ihr Kind ergreifen und zu ihm stehen. Es ist auch hier anzunehmen, daß Frauen, die ihr Kind ungeschützt der Mißhandlung durch den Vater aussetzten, ähnliches in ihrer eigenen Kindheit erleiden mußten.

Wichtig scheint mir, daß der sexuelle Mißbrauch von Kindern (und Erwachsenen) kein isoliertes Problem darstellt, sondern eng verknüpft ist mit der Art und Weise, wie heute noch mit Kindern umgegangen wird. Es gibt wohl nur wenige Menschen, die ein Kind in allen Bereichen als eigenständiges Wesen, im vollen Besitz seines Selbst, begreifen und aushalten können. Dementsprechend sind Kinder Erziehungs- und Machtobjekte der Eltern, eine Rolle, die das Grundgesetz der BRD festschreibt.

Katrin Radtke von der Initiative Schattenriß fordert: „Die Kinder sollen lernen, nein zu sagen...“ Wie soll es denn angehen, daß ein Kind in sexuellen Dingen nein sagt, wenn es sich ansonsten Erwachsenen unterwerfen muß? Wieso sollte dieses Nein ernster genommen werden, als jedes andere? Ähnliches wurde in Heft 1/1984 der Zeitschrift 'Eltern‘ vorgeschlagen. Ich möchte hier E.v.Braunmühl zitieren, der zu diesem Artikel in „Der Heimliche Generationenvertrag“ folgendes bemerkt: „Es kann hier offenbleiben, ob es überhaupt möglich ist, Kindern in der von Holl vorgeschlagenen isolierten Weise, also bei sonstiger Fortgeltung des HGV (Heimlicher Generationenvertrag, will heißen: Im Rahmen eines erziehenden Umgangs), solches Neinsagen anzudressieren. Nicht offenbleiben darf das Problem, ob durch solche Rollenspiele nicht die Verantwortung der Erwachsenen den Kindern aufgebürdet wird, die, wenn ihnen doch etwas passiert, dann ähnlich wie Frauen mit dem Vorwurf konfrontiert werden könnten, sie hätten nicht klar genug nein gesagt.“ Ganz nebenbei bemerkt, sagt jedes unverstörte Kind nein, wenn es ihm nicht ausgetrieben wird.

Folgerichtig geht der Artikel auch wenig auf die Frage ein, wie ein Kindermensch seinen Mißbrauch erlebt; die seelischen und körperlichen Folgen und Schäden werden in den Vordergrund gestellt. Kein (erwachsener) Mensch will deshalb nicht mißbraucht/vergewaltigt werden, weil er/sie Schäden fürchtet, sondern weil er/sie nicht will, es ihm/ihr unangenehm ist, er/sie sich unbehaglich fühlt, sich alles in ihm/ihr dagegen wehrt. Bezeichnenderweise werden Diskussionen um Strafe als Erziehungsmittel mit den Argumenten geführt, daß diese dem Kind schadet, das Lernen eher behindert usw. Selten wird ausgesprochen, daß Strafe Folter ist und die Integrität des Kindes zerstört.

Die Arbeit der Hilfsinitiativen ist sicher wichtig, und ich wünsche allen Opfern, daß sie aus solchen Beziehungen ausbrechen und das Erlebte verarbeiten können. Aber auf der gesellschaftlichen Ebene ist es nicht damit getan, den Männern/Vätern die Schuld zuzuweisen und es dabei bewenden zu lassen. Unser Umgang mit Kindern muß sich vollständig ändern und das ist eine zutiefst politische Aufgabe.

Die Grenzen zwischen lebensnotwendigen Zärtlichkeiten und mißbräuchlichen Beziehungen sind keineswegs fließend (Bildunterschrift). Sie werden in jedem Fall vom Kind bestimmt.

Burkhard Kohl, Freiburg im Breisgau