Gracqs Nantes

■ Julien Gracq, „Die Form einer Stadt“

Am Namen Gracq liegt es wohl nicht, daß man ihn hierzulande nie wirklich wahrgenommen hat, obgleich ihm durchaus etwas Unzugängliches und Fremdartiges, ja gar Hermetisches anhaftet. - In seinem Land, wo er 1910 in St. Florent-le -Vieil geboren wurde, zählt man Julien Gracq zu den Klassikern der Moderne. Es heißt von diesem Mann mit dem bretonisch klingenden Namen, daß er sehr zurückgezogen lebe, und es scheint, daß er so einem prägenden Abschnitt seiner Kindheit treu geblieben ist, der die Folie eines autobiographischen Städtebildes liefert. 1985 in Frankreich veröffentlicht, liegt es nun in deutscher Übersetzung vor.

Die Straßen von Nantes, jener weit ins Land vorgeschobenen Hafenstadt am südlichen Zipfel der Bretagne, das sind für Gracq Straßen der Erinnerung, die das Raster seiner poetischen Erkundung bilden.

Zwischen seinem 11. und 18. Lebensjahr besucht Gracq dort ein Internat. Unter strengem Regime in klösterlicher Abgeschiedenheit von der Stadt lebend, sind es nur die obligaten Sonntagsausflüge, die in der Phantasie des pubertierenden Knaben allmählich die Ahnung einer von geheimen Sapnnungen und Polarisierungen gesättigten Großstadt aufsteigen lassen. Aus einer Distanz von 67 Jahren nun hat er die Sedimentierungen einstmals gewonnener, erster, mehr geträumter als 'wirklicher‘ Bilder, die sich ins Gegenwärtige eingelagert haben, einer erneuten Lektüre unterzogen. Er hat ein schlichtes, unmelancholisches Buch daraus gemacht. Das Porträt einer Stadt konnte und sollte es nicht werden, wohl aber ein ganz persönliches Begleitheft zu einem Nachschlagewerk, das diese Stadt in ihren zersplitterten Eindrücken für Gracq immer schon darstellte. Überall hin konnte man es mitführen, durchblättern „und rücksichtslos mit Anmerkungen und Strichen“ versehen. Es geht ja nicht nur um die vom allzu schnellen Wandel einer Stadt unversehrten Erinnerungen. Es geht auch um die Wandlungen „eines noch unbeschriebenen Herzens, das die Stadt ihrem Klima und ihrer Landschaft aussetzt, und seinen geheimen Ausblicken und Traumbildern die Folie ihrer Straßen, Boulevards und Parks unterlegt“. Nantes, das ist für Gracq Urbild und Inbegriff aller Städte schlechthin, eine Landschaft des Kindes und Heranwachsenden, geträumte Stadt, die in Natur zurückverwandelt scheint. Das lebendige, elektrisierte Stadtfaszinosum ist es nicht, das diese 'erdige‘ Poesie interessiert. In ihr sind die Menschen seltsam abwesend, und so geht die Phantasie daran, die ideale Stadt zu erbauen - entlang der „schneidenden Kanten der Straßen“ und ihrer, durch kein noch so versöhnliches Treiben der Menge mehr verdeckte, „steinernen Arroganz“. Doch ist der junge Gracq kein Flaneur. Dazu fehlt es ihm an der Gelassenheit des Melancholikers, der nur findet, nie aber sucht. Wer sich jedoch immerfort Ziele setzt, die nie erfüllt werden, dessen Rausch und Antrieb ist anderer Natur. Allein das Begehren ist es, das durch die Gitterstäbe seiner Abgeschiedenheit die Objekte ideell belebt und verformt. Nicht daß sich unter diesem Blick Nantes in eine Stätte des Lasters verwandelt hätte: „Es war lediglich dieses geistige Leichterwerden, das uns an allen Kreuzungen erfaßt, an denen, in unserer Phantasie, das Abenteuer lauert ... Dieses Leben, das in der Ferne vorüberzog, ... beseelte für mich die Straßen einer Stadt, von der ich nur das Lärmen vernahm, und wollte mir nicht aus dem Sinn.“ Als ein Aufbewahrungsort des Rätsel- und Zauberhaften, hermetischer, geschützter Mikrokosmos der Bedeutungen, nimmt die Stadt hier eine für alle Schriften Gracqs spezifische Räumlichkeit an. Ihre Spannung bezieht sie aus des Autors „Vorliebe für die Randzonen“, die Halbschatten und Weichbilder, mit denen sich eine Stadt nach innen wie nach außen gliedert, verdichtet und ausfächert.

Selten ist die Dynamik einer Stadt, ihres umbauten Raumes, ihrer Übergänge, so sehr aus dem Gefühl für Polarisierungen, Proportionen, Osmosen und Bewegungen heraus veranschaulicht worden: Farben und Klima eines Ortes, das Fließende wie das Gestaute, das sich Sammelnde und irgendwo wieder Auseinanderstrebende. Die Beschreibung gerät zur Erzählung: Ob dabei von den Wasserläufen der mit so unterschiedlichem Temperament behafteten Loire oder Erdre die Rede ist oder von den sternförmig angeordneten Ausfallstraßen ins Umland dort, wo Gracq stumme Landschaften zum Sprechen bringt, weil er jene Spannung zu beleben vermag, in welche sie ihr uraltes Verhältnis zur Stadt versetzt hat.

Florian Bungart

Julien Gracq: Die Form einer Stadt. Prosa; Droschl-Verlag 1989, 129 Seiten, 18,- DM