Interpretation als Landkarte von Fehl-Deutungen

■ Harold Blooms „Kabbala, Poetik und Kritik“

Eine erste größere Arbeit Harold Blooms liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor, nämlich das Buch Kabbala, Poetik und Kritik (amerikanisch bereits 1975 erschienen).

Darin entwickelt Bloom ein alternatives Konzept zur gängigen dialektischen Interpretation von Geschichte und Tradition. Jeder Dichter, jeder Schriftsteller und Autor, der sich nicht ausdrücklich als Adept eines vorgängigen Textes oder Dogmas (also als Dogmatiker) versteht, muß sein zwangsläufig - gegenüber allen, die vor ihm waren verspätetes Auftreten begründen. „Jeder neue starke Dichter“, so schreibt Harold Bloom in seinem Buch, „geht von einer frischen Begrenzung aus (...), indem er eine unerträgliche Gegenwart, nämlich die Idee eines Vorläufers, verleugnet und entleert.“ Er ist also, in den Worten Blooms, ein Revisionist.

Der hegelschen Dialektik stellt Bloom das kabbalistische Denken entgegen. Und es ist nicht sein kleinstes Verdienst, wenn ihm sein Buch zu einem wunderbaren Beleg dafür gelingt, daß die Kabbala weder den Religionswissenschaftlern noch allein den Esoterikern überlassen bleiben sollte. Sie besitzt als Strukturmuster bestimmter Denkformen auch heute noch einen operativen Wert für die Theorie. Im Anschluß an Scholem interpretiert Bloom die von Isaak Luria geschaffene Version der Kabbala als einen Mythos vom Exil. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im 15.Jahrhundert steht Luria vor dem Problem, gegen die Autorität der Bibel und des normativen Judentums der rabbinischen Tradition die Verfolgungen des auserwählten Volkes zu erklären. Im Verhältnis zum traditionellen Judentum muß er sich als Revisionist verhalten, will er dafür eine Erklärung liefern. Er tut das, indem er die Schöpfung nicht mehr als eine Ausdehnung, eine Emanation Gottes ansieht; für Luria zieht sich Gott, der Allumfassende, zusammen und macht so Platz für Welt. Ein Vorgang, der mit dem Wort zimzum bezeichnet wird. Durch diesen Rückzug wehrt Gott auch die Verantwortung für das unverdiente Böse und die Leiden seines Volkes ab.

Die ausgesprochen originelle und neue Denkmöglichkeiten eröffnende Idee von Blooms Buch besteht nun darin, zimzum als das Grundproblem jeden Schöpfungsaktes zu betrachten: Jeder Dichter, jeder Theoretiker, der Neues schaffen will, muß sich vom Einfluß der Vorgänger befreien, muß seine starken Vorgänger zwangsläufig fehllesen, um seine eigene Existenz zu rechtfertigen. Auch wenn zwischen dem Wissenschaftler und dem Dichter insoweit ein Unterschied besteht, als daß ersterer in bezug auf ein Paradigma sich verhält, während der Dichter es mit einem Vorläufer zu tun hat, so besteht m.E. doch kein Unterschied zwischen ihnen, soweit sie Leser vorgängiger Texte sind. Wenn das so ist, dann ist jede starke Dichtung ebenso eine Lüge gegenüber den Vorgängern wie jedes starke Lesen Lüge gegenüber der unterstellten, verborgenen Wahrheit des Textes ist.

Geschichte der Literatur wäre folglich - und dafür, so scheint mir, hat Harold Blooms Buch selber ein wunderbares Bild geschaffen - weniger die allmählich fortschreitende Entbergung einer versteckten Wahrheit als vielmehr eine nachzuzeichnende Landkarte der Fehldeutungen. Bei Bloom wird diese Landkarte strukturiert durch Tropen, also Gestalten aus der Welt der Rhetorik. Aber natürlich könnte man auch versuchen, sie durch andere Gestalten zu konkretisieren. Wenn Bloom sich beispielsweise auf Emerson bezieht, für den „die Tropen den literarischen Kontext wegbrennen“ und einer Vision der Selbstgenügsamkeit Bahn brechen, die die Letztbegründung des Selbst im Selbst, also die „vollkommene Rundheit, heiter zugesteht, dann haben wir hier einen Ausgangspunkt. Das Runde könnte eine solche Gestalt sein, die uns als Anfang dient, die Landkarte der Fehl-Deutungen nachzuzeichnen. Gaston Bachlard hilft uns, den Faden aufzunehmen: „Michelet sagt ohne Vorbereitung, so recht im Absoluten des Bildes bleibend, daß 'der Vogel beinah ganz kugelförmig‘ sei. (...) Der Vogel ist für Michelet eine volle Rundung, er ist das runde Leben“ (Gatson Bachelard, Poetik des Raums, München 1975, S. 268f.). Wenn es so ist, daß wir nur verstehen können, was wir selber gemacht haben („Ein Leser, der ein Gedicht versteht, versteht tatsächlich sein Lesen dieses Gedichts“, Bloom, a.a.O.), dann ist dies Bild von Michelet ein Daseinsgleichnis, man könnte sagen eine soziale Trope für Individuum.

Wenn bei Bloom Geschichte selbst - als Ort der Synthesis und der Bewußtwerdung des Subjekts - zum Gegenstand von pragmatischen Hypothesen und in ihrer Funktion als Mythos für unser Denken reflektierbar gemacht wird, dann handelt es sich nicht, wie ihm vorgeworfen wurde, um den ästhetisierenden Rückzug von den universalistischen Prinzipien der westlichen Kultur. Ganz im Gegenteil: Erst wenn das gesellschaftliche Individuum aus der Zwangsjacke von Wahrheit und Geschichte befreit wird, erst dann ist wirklich Raum für moralisch zu begründende Fehlentscheidungen, für die auch im nachhinein einzustehen wäre. Freiheit ist ein Risiko, auch wenn die Vertreter der „wahren“ Emanzipation den Menschen das nicht zutrauen mögen. Oder wie Harold Bloom am Schluß seines Buches sagt: „Interpretation ist Revisionismus, und die starken Leser revidieren so, daß jeder Text zu einem verspäteten wird und sie selber zu Kindern der Morgendämmerung, früher und frischer als irgendein abgeschlossener Text jemals zu sein hoffen könnte.“

Ulrich Hausmann

Harold Bloom: Kabbala, Poetik und Kritik. Verlag Stroemfeld/Roter Stern 1989. 127 S. 28DM