Comicologica

■ 17.Internationaler Comic-Salon von Angouleme (28. bis 29.Januar 1990)

Die bislang unangefochtene Comic-Hauptstadt Europas hat sich selbst ein gläsernes Denkmal gesetzt. Mit viel Pomp und Prominenz öffnete zum diesjährigen Comic-Salon in Angouleme (Südwestfrankreich) das europaweit einzigartige Centre National de la Bande Dessinee et de l'Image (C.N.B.D.I.) seine Tore. Frankreichs agiler Kulturminister Jack Lang ließ es sich nicht nehmen, diesen postmodernen Musentempel der Comics höchstpersönlich einzuweihen. Und der Architekt des Comic-Zentrums in vier Etagen, Roland Castro, verkündete in der den Franzosen eigenen Bescheidenheit, man habe nichts weniger als eine „Comic-Kathedrale“ schaffen wollen. Von außen - davon konnten sich die rund 200.00 zahlenden Besucher des viertägigen „Cannes der Comics“ überzeugen ist der Versuch, die „neunte Kunst“ via Architektur als Zukunftsmedium zu verkaufen, durchaus gelungen. Für die stolze Summe von 80 Millionen Francs und mit dem Segen des Kulturministers verwandelte Castro eine ehemalige Bierbrauerei in ein gläsernes Gesamtkunstwerk, mit Schwebebrücken, glitzernden Glasfassaden und der Rundform eines in der Mitte halbierten, antiken Amphitheaters. Der 'Quotidien de Paris‘ sprach denn auch mit Blick aufs C.N.B.D.I. von einem „Carrefour des europäischen Comics und des Bildes“. Ob freilich das Interieur des mehrstöckigen „Kaufhauses“ rund ums Medium des graphischen Erzählens so geglückt ist, darf getrost bezweifelt werden. Strahlen doch die weiß getünchten Innenräume eher den diskreten Charme der Yuppie-Bourgeoisie aus denn den „Traum vom 21.Jahrhundert“, ein zweites Münchener „Gasteig“ eben.

Über jede Mäkelei erhaben ist jedoch die künftige Aufgabe des nationalen Comic-Zentrums: In der ersten Etage befindet sich die Mediathek mit mehr als 6.000 Comic-Alben und einhundert laufenden Magazinen. Eine Fundgrube für Comicologen aus aller Welt dürfte auch das C.N.B.D.I.-Archiv sein, das - mit momentan 50.000 Dokumenten - ständig aufgestockt werden soll. Im Aufbau ist zudem eine audiovisuelle Datenbank. Nicht genug damit: Das C.N.B.D.I. ist auch ein Comic-Museum, ein Comic-Kongreßcenter (mit Amphitheater für 365 Zuhörer) und eine Comic-Kunstakademie. Schon seit fünf Jahren unterrichtet die Kunstschule in Angouleme in Comic-Kunst, ein staatliches Diplom steht am Ende. Seit zwei Jahren arbeitet im C.N.B.D.I. das Atelier für Computergrafik. Hier entstehen regelmäßig Fernsehspots und - wie der Direktor des Comic-Zentrums, Denis Raison, betont - „andere Typen der Bildsynthese“. Kunststudenten aus Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik (somit der übrigen EG-Länder) können so in Zukunft im C.N.B.D.I. ein neues europäisches Masterdiplom absolvieren, von der EG gefördert und in Zusammenarbeit mit High-Tech-Universitäten in London, Utrecht und Paris.

Kein Wunder, daß das Millionenprestigeobjekt die vier Tage des internationalen Comic-Salons mitten im Rampenlicht stand: Das C.N.B.D.I. beherbergte drei große, exzellente Ausstellungen. Allein die grandiose, auf 1.000 Quadratmeter angelegte Werkschau der Brüsseler Francois Schuiten und Benoit Peeters - Le Musee des Ombres (Das Museum der Schatten) - kostete eine Million Francs. Schon von jeher eine Angouleme-Spezialität, nutzte die Crew um Oliver Corbex plastische Spezialeffekte und das Klangmittel der Ton-Dia -Show in Cinemascope-Format: Eine aufgesprengte Mauerwand aus Pappmache, meterlange Regale mit riesenhaften Bücherrücken und futuristische Fahr- und Werkzeuge (so ein aerogetriebenes Fahrrad für den Luftverkehr) bildeten die pittoreske Kulisse zum ausgestellten Comic-Zyklus Cites obscures. Diese bizarren, seit 1982 erscheinenden Licht und Schattenbilderromane sind geprägt von der architektonischen Meisterschaft des belgischen Comic -Künstlers Francois Schuiten. Atemberaubend setz er ganze Städte und imposante Bauwerke in Szene. Gemeinsam mit dem Texter Benoit Peeters schuf Schuiten, der aus einer Architektenfamilie stammt, ein schwer zugängliches, raum und zeitloses Städteopus. Im Mittelpunkt der Ausstellung: die Hauptfigur des urbanen Comic-Epos - der vollbärtige Architekt Eugen Robick (eine Art zweiter Auguste Rodin dieser Comic-Allegorie), von den Machern als sich behäbig bewegender Roboter „lebendig“ gemacht. Unterm in dunkles Blau getauchten Kuppelfirmament mit imaginärem Kontinent entwirft das Baugenie Robick seine futuristisch anmutenden Traumstädte. Die Schuiten-Ausstellung allein ist einen Besuch im C.N.B.D.I. in Angouleme wert, sie ist noch - über den Salon hinaus - bis zum 20.Mai dort zu sehen. Der Verlag casterman hat (neben den bisher sechs Bänden des Cites obscures-Zyklus) obendrein einen neuartigen Katalog Le Musee A.Desombres mit beiligender CD publiziert. Beim Mannheimer Feest-Verlag sind bisher die Comicromane Der Turm, Das Fieber des Stadtplaners und Die Mauern von Samaris in deutscher Sprache erschienen.

Kaum minder aufwendig geriet auch die Ausstellung zu Ehren des genialen Comic-Surrealisten Winsor McCay (1867 bis 1934), dessen berühmteste SerieLittle Nemo in Slumberland bei uns derzeit in einer mehrbändigen Werkausgabe reediert wird (Carlsen Verlag). Ähnlich wie in der großen Schuiten-Schau bot sich hier ebenfalls ein Multimediaereignis mit einfallsreichem Dekor (unter anderem ein überdimensionales Bett des von Alpträumen geplagten kleinen Nemo, dessen heraushängendes, weißes Bettuch zugleich als Leinwand für McCays noch heute sehenswerte Zeichentrickfilme diente). Der Eingang zur Little Nemo -Ausstellung entpuppte sich als der weit aufgerissene Rachen des grünen Drachenmonsters, das McCays Helden in seinen Träumen öfter heimsucht. Seltene Originalseiten (heute Kostbarkeiten, von McCays Sohn nach dem Tod des berühmten Vaters zumeist zerschnitten und in neue Geschichten umgemodelt) zeugen von der mühevollen Restaurationsarbeit der Comicforschung. Auch Winsor McCays Bilderreportagen um die Jahrhundertwende für die Tagespresse haben heute Seltenheitswert. Das Expertenteam des C.N.B.D.I. um Thierry Groensteen hat dazu einen bibliophilen Katalog herausgebracht (Verlag Milan) - mit einem Vorwort des vom Comic-Pionier Winsor McCay beeinflußten englischen Filmregisseurs Peter Greenaway. Titel des Buches: Little Nemo au pays de Winsor McCay.

Gleich nebenan entdeckte Angouleme den neuen englischen Comic: Die Exponate durch die englische Comicgeschichte hingen in den schmalen Gängen eines imaginären, über Lautsprecher kräftig blubbernden „Kanals“ zwischen der Insel und dem europäischen Festland. Die eigens zur Ausstellung God save the Comics und mehreren Podiums- und Diavorträgen eingeladenen Comicmacher von der Insel räumten mit dem Vorurteil auf, daß man dort nur billige Zeitungs-, Girl- und War-Comics zu produzieren imstande ist. Seit Beginn der Achtziger haben englische Comicmagazine wie 'AD 2000‘ und 'Warrior‘ den anglo-amerikanischen Markt mit künstlerisch ambitionierten Erwachsenenserien revolutioniert. Namen wie Dave McKean, Grant Morrisson, Raymond Briggs, Brian Talbot, Hunt Emmerson und Posy Simmonds hörten die Festlandeuropäer in Angouleme teilweise zum ersten Mal.

Star des britischen Reigens war ohne Zweifel der Texterguru Alan Moore. Seine zwölfteilige Antisuperheldengeschichte Watchmen (mit dem englischen Zeichner Dave Gibbons für den US-Konzern DC) geriet über Nacht zum millionenfachen Bestsellererfolg. Monthy Python-Regisseur Terry Gillham versucht sich derzeit an einer Verfilmung des Stoffes, obwohl Starautor Moore seine „Wächter“ für „unverfilmbar“ hält. Völlig verdient erhielt bei der Verleihung des Comic -Oscars, des Prix Alph'Art, Moores zweiter Erfolg - V for Vendetta - die begehrte Trophäe. Laut Zeichner David Lloyd, der diesen beklemmenden Politfiktionthriller in schattenrißartiger Manier aufs Papier brachte, ist V for Vendetta (demnächst deutsch beim Carlsen Verlag) eine „Mischung aus Orwells 1984 und Batman“. „Wir wollten den für England gar nicht so unwahrscheinlichen Fall einer faschistischen Machtergreifung durchspielen“, sagt Thatcher -Gegner Alan Moore. „Die zwei Extreme von heute sind nicht Kapitalismus und Kommunismus, sondern Faschismus und Anarchie“, so Moore, der sich inzwischen von seinem einstigen US-Brötchengeber DC losgesagt und seinen eigenen Independent-Verlag Mad Love gegründet hat. V for Vendetta schildert das totale Überwachungssystem des faschistisch beherrschten England im Jahr 1997. Einzig der geheimnisvolle „V“ trotzt dem Terrorregime. Als er - dessen Identität dem Leser bis zuletzt verborgen bleibt - am Ende der Geschichte zu Tode kommt, übernimmt seine Freundin die Mission der Blutrache. Hauptpreisträger des Grand Prix de la Ville wurde der 42jährige Max Cabanes. Die Jury würdigte sein Gesamtwerk, das sich in jüngster Zeit immer mehr zu einem fotorealistischen, in warmen Aquarellfarben gehaltenen Zeichenstil entwickelte. Vor allem seine autobiographisch inspirierten Alltagsgeschichten Jugendlicher an der Cote d'Azur, die deren „Frühlingserwachen“ und erste Liebeserlebnisse zeigen (Serie Colin-Maillard, Casterman), gehören zu den besten Comics für Erwachsene. Kaum nachvollziehbar blieben dagegen die übrigen Jury -Entscheidungen: Unverständlich ist, daß ein so einfühlsamer Comic wie das bei Delcourt erschienene Album Neekibo von Michel Plessix (Zeichnungen) und Dieter (Text) keinen Preis erhielt. Geschildert wird die Liebes- und Abenteuergeschichte des blonden Julien Boisvert, den es nach Afrika verschlägt, wo er dank der Liebe zur hübschen Eingeborenen Neekibo ein ganz neues Leben beginnt. Ein halbrealistischer Stil, warme Farben und eine poetische Handlung machen „Neekibo“ zur Entdeckung des Jahres. Nach langen Jahren der Abstinenz wieder dabei: Moebius alias Jean Giraud, dessen fantastisches Werk derzeit beim Carlsen Verlag erscheint. Im Münchner Splitter-Verlag kam sein Silver Surfer (Text: Stan Lee) heraus, ein Produkt seines mehrjährigen Schaffens in den USA. Moebius wagte auch einen Blick in die Zukunft: „Der kommende Absatzmarkt für den Comic heißt Deutschland.“ Während sich bundesdeutsche Verlage zur Zeit um Joint-ventures mit DDR-Comicanbietern bemühen (Carlsen mit dem Rostocker Kinderbuchverlag Reiche, die Edition Kunst der Comics mit dem Basis Druck Verlag des Neuen Forums), reißen sich die Franzosen um Marktanteile auf dem westdeutschen Markt. Jüngster Coup: die erzkatholische Ampere-Gruppe, die inzwischen vierzig Prozent des frankobelgischen Comicgeschäfts beherrscht, verkaufte das gesamte Erwachsenencomicprogramm von Dargaud (der Renommierverlag dehört zum Ampere-Imperium) an den Schweizer Verlag Alpen Publishers. Somit erscheinen so große Namen wie Bital (sein Portfolio Die Mauer Berlins bekam ungeahnte Aktualität und inspririerte Wim Wenders zu seinem Film Der Himmel über Berlin), Lauzier oder Christin/Mezieres künftig unter dem Alpen Publishers-Label „Humanoides Associes“.

Die Lizenzsituation sei daher „extrem unklar“, erklärte ein bundesdeutscher Comicverleger. Etliche Verlage wie Glenat überlegten gar, ob sie nicht künftig selber ihre Comics in deutscher Sprache publizieren können. Der große Run in Sachen „EG '93“ hat begonnen.

Abseits vom ganzen Messetrubel in den beiden Zelten Bulles de Mars und Bulles de New York (über 200 Verlage und Agenturen aus aller Welt) und dem erstmals eingerichteten „Pavillon International“ zwecks Lizenzhandel, bot die Werkausstellung des großen Humoristen Rene Petillon Erbauliches. Völlg unverständlich, daß dessen Humorserien Jack Palmer und Der schwarze Baron nicht in Magazinen wie 'Kowalski‘ oder 'Titanic‘ zu finden sind. Kostprobe: Ein Mann kommt ins Büro des Privatdetektivs Jack Palmer und bittet wegen eines Plagiats um Schützenhilfe. Im letzten Bild fällt die Knollnase Palmer fast vom Hocker: Es sind Salman Rushdies Satanische Verse.

Eine weitere Krimipersiflage, die des Spaniers Miguelanxo Prado (Text: Fernando Luna) mit dem Titel Manuel Montano, bietet ebenfalls humoristische Comic-Kost vom Feinsten. In Frankreich noch im Frühjahr als Album erhältlich, steht eine deutsche Veröffentlichung leider noch immer aus.

Eine echte Comicperle ist auch der Serienheld „Harry Mickson“ (Futuropolis) aus der Feder der französischen Comic -Zeichnerin Florence Cestac: Auf der Suche nach dem verlorenen Freund erscheint im Mai beim Ehapa Verlag (1989 in Angouleme bestes Album für Humor). Die Konkurrenz des europäischen Comic-Salons von Grenoble hat Angouleme nichts anhaben können. Im Gegenteil: Totgesagte leben länger.

Martin Frenzel