Geist des Meilensteins

Ein echter Gipfel: Der Gang der Geschichte macht den Sportjournalismus vorübergehend ernstdieterluegig  ■  P R E S S - S C H L A G

Wo, um Himmelswillen, sind wir denn jetzt schon wieder hingeraten? Elysee-Palast? Weißes Haus? Kanzler-Bungalow?

Da notiert der Reporter bei einer Pressekonferenz eifrig mit und reibt sich beim späteren Blick ins Blöckchen verwundert die Augen: Wo vor Wochen ein Zusammenwachsen schwer vorzustellen war, ist die Illusion nun zur Vision geworden... machbare Zukunft vor uns, fast greifbar erscheinende Realität... Prozeß mitgestalten... Geist der Gespräche von offenem Charakter getragen... Zusammenarbeit intensivieren... Meilenstein... keine Tabus. Kleine Kontrolle: Sind das wirklich die Blätter vom Länderspiel der Handballer? Irrtum ausgeschlossen!

Spätestens hier wird es höchste Zeit, all den Um-, Aus- und Übersiedlern ein herzliches Dankeschön zu sagen. Wenngleich die nicht ahnen konnten, daß sie mit dem Übersteigen von Botschaftszäunen einen ganzen Berufsstand derart aufwerten würden.

Wie lange haben denn Generationen von Sportreportern gelitten unter der Mißachtung durch Kollegen aus den Ressorts Politik und Kultur? Was gab es auch schon zu reportieren?: 17 Freistöße, 12 für die Heimmannschaft; 2 vergebene Chancen (hundertprozentige) in der 17. und 64. Minute; der Lothar hat gut gekämpft; die Auswechslung von Andy war eine taktische Maßnahme.

Aus dem Stadium sind wir raus. Heute haben wir uns freigestrampelt von hängenden Stutzen und Zungen, können Fragen stellen, richtig ernstdieterluegige, wie: „Wer, Herr Präsident, hat denn die Kompetenz des Zugriffsrechts auf den zu gründenden Finanzfonds - die gesamtdeutsche Projektgruppe Handball oder der DDR-Verband autonom.“ Und dürfen dann notieren, es gelte diese Problemstellung zu bearbeiten, das Vorhaben zu projizieren und die Zeithorizonte dabei nicht aus den Augen zu lassen. Ist das nichts?

Plötzlich sind wir mittendrin in der Politik, und die Handballchefs Prof.Dr.Hans-Georg Herrmann (Ost) und Hans -Jürgen Hinrichs (West) zelebrieren mit uns die Ergebnisse ihrer Zusammenkunft, als würde in Genf die endgültige Verschrottung jedweden Kriegsgeräts brutal ins Auge gefaßt. Ein echter Gipfel! Da ist es sogar zu verzeihen, wenn Herrn Hinrichs im Überschwang der kleine Versprecher von den „guten Umsätzen, ähh, guten Vorsätzen“ unterkommt. Aber vielleicht war das ja auch nur Ausdruck des Versuchs, „Realist zu bleiben“.

Weil's halt ums Geschäft geht und in zwei Jahren der gesamtdeutsche Meister in einer gesamtdeutschen Liga so zur Normalität gehört, daß es auch mit dem kurzen coming-out des Sportjournalismus ein Ende haben wird. Wem dürfen wir dann noch erzählen, es würde ein kontinuierlicher, intensiver Meinungsaustausch ins Auge gefaßt? Knochentrocken werden sie uns wieder morgens auf dem Flur fragen: „Sag mal, wie hat eigentlich Bayern gegen Magdeburg gespielt?“

Und all die schönen Sätze kommen dann nicht mehr aus der Deutschlandhalle und dem Olympiastadion, sondern wieder aus dem Oval Office oder der Villa Hammerschmidt.

Thömmes