Saß auch Stalin am Beratungstisch des ZK?

Der Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU zur Abschaffung des Machtmonopols der Partei läßt Interpretationsspielraum und findet unterschiedlichste Wertungen / Bald Mehrparteiensystem oder starker Präsidialstaat? / ZK vermeidet endgültigen Bruch mit der litauischen KP  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Die nach langen und heftigen Diskussionen gefaßten Beschlüsse des am Mittwoch zu Ende gegangenen ZK-Plenums der KPdSU finden im Lande weithin unterschiedliche Wertungen. Die dem Parlament vorgeschlagene Kompromißformel zwischen Reformern und Konservativen zur Änderung des Verfassungsartikels6, der bisher die führende Rolle der Partei festschrieb (siehe Kasten), läßt Interpretationsspielraum. Das ZK hatte auch die Entscheidung der litauischen KP verurteilt, sich von der KPdSU zu trennen, aber einen direkten Bruch mit den Litauern vermieden, sondern die weitere Debatte des Problems auf den für den Frühsommer vorgesehenen Parteitag verlegt.

Funktionäre wie der stellvertretende KP-Chef von Kasachstan, Waldislaw Anufrijew, werten die Neufassung des Artikels6 als klare Entscheiduung für ein Mehrparteiensystem als künftige Basis des politischen Systems der Sowjetunion. Andere sehen die Sowjetunion von einem Mehrparteiensystem noch weit entfernt. Gorbatschows Berater Jakowlew sagte in seiner Erläuterung der Formel zu Artikel6, von der Bildung von Parteien sei kein Wort gesagt. Durch die in der jetzt verabschiedeten Plattform für den Parteitag vorgesehene Regelung der Direktwahl des Staatspräsidenten setzt die Partei offenbar mehr auf ein starkes Präsidial- als auf ein Mehrparteiensystem.

Eine telefonische Blitzumfrage der taz an die verschiedenen Enden des Imperiums zu den Resultaten des ZK-Plenums ergab, daß die Betroffenheit der befragten Bürger proportional zu deren Entfernung von der Moskauer Zentrale abnahm. „Unsere Gesamtbilanz ist positiv“, meinte Igor Tschubais, Vorsitzender der Bewegung „Demokratische Plattform in der KPdSU für den 28. Parteitag“. „Positiv schon deshalb, weil auf dem Plenum die Existenz unserer Bewegung kundgetan und unsere Forderungen vertreten wurden. Zudem hat es einige ganz beträchtliche Entwicklungen nach links gegeben, und das Datum des nächsten Parteitages wurde wesentlich vorverlegt, so wie wir es immer gefordert haben. Es gibt aber bei alledem ein großes 'Aber‘, denn gemessen an der Radikalität der Erwartungen in der Gesellschaft sind alle diese Schritte zu unbedeutend. Nicht umsonst haben bei dem Meeting im Zentrum Moskaus vorigen Sonntag Hunderttausende skandiert 'Zurücktreten! Zurücktreten!‘ Jetzt ist erstmal gewährleistet, daß sich die Spannung im Staate nicht noch mehr erhöht, aber vermindern wird sie sich höchstens minimal. Immerhin zeichnet sich ab, daß das Gewicht der demokratischen Bewegung - auch innerhalb der Partei tendenziell zunimmt.“

Und wie steht er zu dem Beschluß, die litauische KP aus der KPdSU auszugliedern? „Als ich das gestern abend erfuhr“, sagt er, „hatte ich den Eindruck, daß Stalin heimlich an dem Plenum teilgenommen hat. Ich glaube, daß man sich diese Beschlusses noch einmal schämen wird, und daß man ihn eines Tages rückgängig machen muß. Das Ganze erinnert an den Witz über die Frau, die ins Parteibezirkskomitee rennt und schreit: 'Mein Mann hat mich verlassen, er ist ein Schweinehund, gebt mir meinen Mann zurück!‘ So diskreditiert das ZK die litauische KP und bettelt gleichzeitig, daß sie zurückkehrt“.

„Für unsere litauische kommunistische Partei ist das eine gewaltige Propaganda für die bevorstehenden Wahlen, etwas Besseres konnte ihr gar nicht passieren“, meint Ljubov Tschornaja, Chefredakteurin der litauischen Volksfrontzeitung 'Soglasie‘ aus Vilnius. Frau Tschornaja konzidiert dem ZK, daß der Ton der Unvereinbarkeitserklärung gegenüber der litauischen KP „recht freundlich“ gehalten sei: „Man will die Brücken nicht abbrechen. Die Zeit spielt jetzt der KP Litauens in die Hände!“ Die Abschaffung von Artikel 6 auf dem Moskauer Plenum sei für Litauen kaum interessant, meint die Redakteurin und erinnert: „Bei uns ist das Mehrparteiensystem schon vollendete Tatsache und nicht nur als KP-Programm, sondern unser Parlament hat dem schon am 6. Dezember Gesetzeskraft verliehen.“

„Was sich dort abspielt, ist im Grunde genommen deren Sache“, kommentiert der Bergarbeiter Alexej Alexandrowitsch Pristupa aus dem Stadtstreikkomitee Workuta das litauische Geschehen. Pristupa ist Mitglied der Demokratischen Union. Abwartend äußert er sich zur Vorlage zum Artikel 6: „Man muß erst einmal den Beschluß des Obersten Sowjet abwarten. Wir fordern auf jeder Versammlung die Liquidierung der Parteiorganisationen in den Betrieben. Hier gehören 80 Prozent der Wirtschaftsadministratoren der Partei an, dabei ist nicht einzusehen, warum diese gesellschaftliche Organisation mehr Rechte haben soll, als ein Schachklub.“