Dr. Nadjib heilt die „afghanische Wunde“ nicht

Die „blutende Wunde am Hindukusch“, wie einst Michail Gorbatschow den afghanischen Konflikt bezeichnete, wird so bald nicht aufhören zu bluten. Seit der Schmach der muslimischen Partisanen im Kampf um Dschalalabad, der Stadt im Südosten Afghanistans, geht es mit den afghanischen Gottesstreitern sichtlich bergab. Auch ohne sowjetischen Beistand vermochten die afghanischen Kommunisten, dem Sturm der Mudschaheddin standzuhalten. Den einfachen moslemischen Kämpfern fällt es immer schwerer, nicht vom Glauben an den gottgewollten Sieg abzufallen. Dies um so mehr, als auch alle anderen Offensiven auf afghanische Städte fehlschlugen, wie etwa der jüngste Angriff der Mudschaheddin auf die Garnisonsstadt Chost in der südöstlichen Provinz Paktia.

Daß 70 Prozent der Mudschaheddin seit Djalalabad den Kampf aufgegeben haben, wie kürzlich aus Kabul verlautete, ist sicher übertrieben und gehört zu der üblichen Propaganda. Doch ein beträchtlicher Teil der Aufständischen hat, kampfesmüde vom zehnjährigen Krieg, die Waffen niedergelegt

-oder wie es in der offiziellen Sprache heißt, „die Politik der nationalen Versöhnung bejaht“. Mit großzügigen Geldspenden oder Ackerland hat sich das Kabuler Regime revanchiert.

Von den acht schiitischen Widerstandsgruppen etwa kämpft zur Zeit nur noch die „Harakate Islami“ (Islamische Bewegung) von Ayatollah Mohseni. Schuld an der tiefen Krise der Mudschaheddin ist nicht zuletzt die neu entfachte blutige Auseinandersetzung ihrer Führer. Entfacht hat sich die neuerliche Fehde im Juli 1989, nahe der afghanischen Stadt Farkar. Drei Dutzend Männer des berühmten Kommandanten Ahmad Schah Masud gerieten dort in einen Hinterhalt der paschtunischen Krieger des Radikalfundamentalisten Gulbuddin Hekmetyar. Sie wurden bis zum letzten Mann niedergemetzelt. Der Vergeltungsschlag ließ nicht lange auf sich warten. Masud nahm 302 fundamentalistische Kämpfer gefangen, darunter Said Djamal, der die Massaker befehligt hatte. Said Djamal und drei seiner Kommandanten wurden später auf Geheiß Masuds hingerichtet.

Der militärischen Auseinandersetzung folgte die politische Spaltung. Gulbuddin Hekmetyar, bis dahin Außenminmister der muslimischen Gegenregierung in Peschawar, trat aus dem Bündnis aus und verkündete, auf eigene Faust gegen die Regierung Nadschibullah vorgehen zu wollen. So wird die neue Schaura, der Rat der Mudschaheddin, die voraussichtlich im Mai zusammenkommt, um eine neue Exilregierung zu wählen, ohne Hekmetyars Hezbe Islami (Islamische Partei) auskommen müssen. Diesmal soll die Schaura aus 2.000 Delegierten bestehen, gewählt von der in Afghanistan lebenden Bevölkerung sowie von den Kämpfern und Flüchtlingen. Bislang waren ausschließlich Parteiführer mit der Ernennung der 400 Delegierten befaßt. Selbst die Schiiten, die in dem derzeitigen Schattenkabinett nicht vertreten sind, haben bereits ihre Mitarbeit zugesagt.

Ob sich allerdings alle Gruppen an das vorgeschlagene Konzept halten, ist angesichts der inneren Zerriebenheit des afghanischen Widerstands mehr als fraglich. Hekmetyar hat jedenfalls einer neuen Schaura den Kampf angesagt. Er befürwortet indes allgemeine Wahlen im Innern Afghanistans, aus denen die Mudschheddin-Regierung direkt hervorgehen soll. Vergangene Woche ließ Hekmetyar einige tausend zusammengetrommelte Anhänger in Peschawar gegen die amtierende Gegenregierung demonstrieren. Es war die erste afghanische Demonstration, die die Pakistanis auf ihrem Boden zuließen und für manche der Beweis, daß Islamabad nach wie vor auf der Seite der radikalen Moslems steht, obwohl die befreundeten USA nicht mehr auf die fundamentalistische Karte setzen.

Derweil versucht Nadschibullah seine afghanische „Perestroika“ voranzutreiben und mit den osteuropäischen Reformbewegungen schrittzuhalten. Die kommunistische „Volksdemokratische Partei Afghanistan“ soll alsbald umbenannt werden, verkündete der afghanische Staatschef. Darüber hinaus sei die Partei bereit, auf ihr Machtmonopol zu verzichten, obwohl sie nach wie vor „die größte politische und gesellschaftliche Organisation im Lande ist“. Aus den Vorgängen in Osteuropa habe man auch in Afghanistan Lehren gezogen und „politischen Pluralismus entstehen lassen“.

Vorerst bleibt dieser Pluralismus nur auf die verschiedenen Gruppierungen innerhalb der herrschenden Macht beschränkt und soll dort ausgleichend wirken, um den Rücken im Kampf gegen muslimische Rebellen freizuhalten. Denn die Rivalitäten zwischen den beiden Fraktionen der regierenden Partei, namentlich Chalq und Parscham, sind längst nicht beendet. Bei den jüngsten Schießereien im afghanischen Außenministerium sollen ein Politbüromitglied und ein höherer Beamter des Geheimdienstes ums Leben gekommen sein.

Die relative Stabilität des Nadschibullah-Regimes hat die westeuropäischen Regierungen zum Umdenken veranlaßt. Demnächst will Frankreich seine Botschaft in Kabul wiedereröffnen, Bonn, London und Rom wollen folgen. In Moskau glaubt man jedoch nicht ganz daran, daß Nadschibullah die „afghanische Wunde“ heilen kann. So halten die Sowjets weitere Optionen offen. Eine „negative Symmetrie“, wonach die USA und die Sowjetunion ihre Waffenlieferung an die jeweiligen Klienten allmählich einstellen sollen, ist ebenso im Gespräch wie die Rückkehr des Ex-Königs Zahir Schah aus seinem römischen Exil. Höchstpersönlich hat Außenminister Schewardnadse vor kurzem den Ex-König aufgesucht, um ihn zur Heimkehr zu bewegen. Als Gallionsfigur soll der noch immer populäre, entmachtete Souverän einer breiten Koalition vorstehen. Doch der 75jährige Ex-Monarch zögert nach wie vor. „Mutig war Zahir noch nie“, sagt ein mit dem König verwandter afghanischer Student. „Er hat Angst vor dem Langbärtigen in Peschawar.“

Doch so grundlos ist die königliche Angst nicht: Für Moslems wie Hekmetyar ist Zahir Schah ein „Verräter“, ein „Kommunistenfreund“, dem man „mit der Kalaschnikow entgegentreten muß“.

Ahmed Taheri