Die Revolution der Medien

■ Das Internationale Forum eröffnet mit DDR-Dokumentarfilmen zur „Wende“

Am 17.Juni 1953 wollten die Dokumentarfilmer von der DEFA spontan mit den Kameras auf die Straße gehen. Aber sie konnten das Studio nicht verlassen: Die Türen waren von außen verschlossen. So sorgten deutsch-demokratische Ordnungskräfte dafür, daß die DEFA keine Filmbilder vom 17.Juni besitzt.

Leizpig im Herbst '89. Die ersten Bilder des gleichnamigen Films von Andreas Voigt, Gerd Kroske und Sebastian Richter machen klar: Bei diesem Aufstand wird es anders sein. Die Kamera bahnt sich den Weg durch die Menge, auf den Gesichtern der Demonstranten kurzes Mißtrauen: Ist es die Stasi? Ist es Westfernsehen? Dann die Entdeckung: Das sind unsere Leute. Und die Kamera wird begrüßt und gefeiert wie ein hoher Staatsgast. Die Szene markiert den Beginn von Glasnost in der DDR.

Ganz offiziell wurden drei Drehstäbe vor Ort geschickt worden, nach Leipzig, Dresden und Ost-Berlin. DEFA -Dokumentaristen und Studenten der Hochschule für Film und Fernsehen filmten die Demonstrationen, sprachen mit Pfarrern, Leuten vom Neuen Forum, Müllmännern, Arbeitern und Funktionären, Einsatzleitern, jungen Vopos und Zugeführten. Sie schnitten und kopierten in Windeseile, die meisten der Filme waren auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche Ende November bereits zu sehen. So schnell hat das nicht nur in der DDR schwerfällige Medium Film selten funktioniert. Und doch kam es zu spät. Eine Verspätung in zweierlei Hinsicht. Erstens war es, dem Augenschein zum Trotz, doch ein bißchen wie am 17.Juni: Als am 7. Oktober in Ost-Berlin Volkspolizei und Stasi die jugendlichen Demonstranten nachts über den Prenzlauer Berg jagten, als es am Dresdener Bahnhof zu brutalen übergriffen kam, und als am 9.Oktober in Leipzig die friedliche Demonstration um ein Haar gewaltsam niedergeschlagen worden wäre, war niemand mit der Kamera dabei. Wenn der 40.Geburtstag der DDR verlaufen wäre wie der 17.Juni, dann hätte die DEFA auch davon keine Bilder.

Um diese Verspätung einzuholen, haben die Filmemacher von Leipzig im Herbst, von Aufbruch in Dresden, 10 Tage im Oktober und den anderen Dokumentationen, die im Forum noch zu sehen sein werden, nachträglich recherchiert. Zugeführte zeigen die Pferdeställe, wo sie einen Tag lang eingepfercht waren, Jugendliche erzählen von ihren Mißhandlungen nach der Festnahme, junge Polizisten berichten stockend, welche Befehle sie hatten. Ergebnis der Recherchen: Es hätte auch anders ausgehen können. Die Aufhebung des Einsatzbefehls am 7.Oktober in Leipzig kam ein paar Minuten vor Demonstrationsbeginn; die genauen Umstände sind bis heute nicht geklärt. Aber allein dieser Film beweist: Wenn der Befehl, nicht einzuschreiten, der aus Berlin kam, aus bloß technischen Gründen die Einsatzleitung nicht erreicht hätte, hätten Armee und Betriebskampfgruppen ihre Pflicht getan. Sie standen schon in den Seitenstraßen.

Verspätet sind die Filme aber auch in einem anderen, notwendigen Sinn: Als im November in Leipzig die brandneuen Bilder von den ersten, noch unsicheren Schritten auf die Straße und den Parolen, die gerade erst erfunden wurden, über die Leinwand flimmerten, demonstrierten vor dem Gewandhaus bereits die Wiedervereiniger. Im Film hieß es noch: „Wir sind das Volk“, auf der Straße bereits „Wir sind eien Volk“. Die Filme waren keinen Monat alt, und doch stammten sie aus einer längst vergangenen Zeit. So sind die DDR-Dokumentarfilme zur Wende auch Dokumente der rasanten Geschwindigkeit, mit der das andere Deutschland sich bis heute verändert, Dokumente eines Erdrutschs.

Im Oktober konnten die DDR-Medien endlich ihre eigentliche Funktion übernehmen: die der Öffentlichkeitsarbeit. Aber das war nur der Anfang. Im November in Prag mischten sich die Filmemacher noch direkter ein. Auch dort durfte das tschechische Fernsehen zunächst nicht auf dem Wenzelsplatz filmen, die ganze Belegschaft drohte mit Streik und erzwang so die Anwesenheit der Kameras bei den Demonstrationen. Und im Dezember in Rumänien ging es bei der Frage, wem das Fernsehen gehört, ein paar Tage lang um alles oder nichts. Die Macht im Staat hatten die, die vor und hinter der Kamera standen. Deshalb posierte die rumänische Übergangsregierung auf dem TV-Bildschirm wie früher die Königsfamilie auf den Ölschinken. Deshalb wurden Ceausescu und seine Frau nicht klammheimlich verurteilt, sondern vor laufender Kamera: Die Revolution fand im Fernsehen statt.

Dokumentarfilme aus Prag und Rumänien werden im Panorama zu sehen sein, die DDR-Dokumentarfilme, -videos und Elf 99 -Reportagen im Forum. Die Berlinale bietet also Gelegenheit, den Umsturz in Ost-Europa noch einmal im Schnelldurchgang zu erleben und gleichzeitig zu sehen, wie das Medium Film jeweils involviert war. Von der teilnehmenden Beobachtung über die voyeuristische Enthüllung bis zur direkten Einmischung und Entmachtung des Conducators.

chp

Roza Berger-Fiedler: Dresden, Oktober '89, 30 Min., Andreas Voigt: Leipzig im Herbst, 60 Min., Jochen Denzler, Petra Tschörtner, Hans Wintgen: In Berlin 16.10.-4.11.89, 64 Min., DDR 1989

10.2. Delphi, 14.00

11.2. Arsenal, 22.30

12.2. Akademie 19.30