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„Ich hatte ständig ziemliche Angst“

■ In Marburg hat ein Fußgänger einen Autofahrer nach kurzer Verfolgungsjagd erschossen / Der Täter, der sich von Kind an stets als Opfer erlebte, hatte angefangen „zurückzuschlagen“ / Gericht verurteilt ihn zu sieben Jahren Freiheitsstrafe

Vera Gaserow

Abends in der Rush-hour, kurz nach Ladenschluß, läuft auf Marburgs Straßen dasselbe Ritual ab, wie in jeder anderen bundesdeutschen Stadt: Stoßstange an Stoßstange schieben sich die Autos aus der City. Wer zu Fuß geht, kommt fast schneller voran, aber man sitzt nun einmal im Auto, ist ohnehin schon viel zu spät dran, hat die Nervenenden auf Alarm gestellt. Hier im Stau zählt jeder Zentimeter, und dabei geht es nicht um die paar lächerlichen Minuten, die man früher zu Hause sein will. Es geht um die höchstpersönliche Selbstbehauptung in einem Alltagskampf namens Straßenverkehr, wo jeder potentielles Aggressionsobjekt des anderen ist.

In diesem Alltagskampf stoßen am 8.Februar 1989 der 33jährige Student Peter Dünnebacke und seine Frau in der Marburger Innenstadt auf eine zusätzliche Widrigkeit. Damit die autofahrenden Kunden des Einzelhandels der Oberstadt nicht unnötig ihre Beine strapazieren müssen, baut die Stadt gerade einen millionenteuren Fahrstuhl, der die Kundschaft vom Parkhaus in der Unterstadt direkt nach oben befördern soll. An der Baustelle bildet sich auf dem Marburger Pilgrimstein ein Stau, und Peter Dünnebacke fährt an jenem Tag mit seinem metallic-blauen Honda fast hinein. In letzter Minute sieht er eine Ausweichmöglichkeit: er schlengelt sich auf die freie Linksabbiegerspur, muß dafür aber mit zwei Reifen einen guten Meter lang über den schmalen Bürgersteig fahren, der an dieser Stelle durch eine Hausecke zusätzlich verengt ist.

Es begann mit einem Fußtritt

In diesem Moment kommt ihm ein junger Fußgänger entgegen. Er muß dem Auto auf dem Gehsteig mit einem schnellen Schritt zur Seite ausweichen, ist erschrocken und verärgert über das rücksichtslos heranrollende Fahrzeug. Als Autofahrer hätte er in dieser Situation wütend hupen können. Aber Fußgänger haben nun mal keine Hupe, und so tritt der junge Mann im Vorbeigehen einmal kurz mit seinem Turnschuh gegen den blauen Honda.

Da passiert es: Peter Dünnebacke - gerade noch um jede Minute feilschend - zieht die Handbremse und stürzt aus dem Auto. Er nimmt sich nicht die Zeit, sein Fahrzeug zu inspizieren, an dem der leichte Fußtritt nicht einmal einen Kratzer hinterlassen hat. Er sprintet hinter dem jungen Fußgänger her. Der hat inzwischen, die Folgen ahnend, seinerseits beide Beine in die Hand genommen. Gut zweihundertfünfzig Meter rennt der 1,90 Meter große Autofahrer Dünnebacke hinter dem eher schmächtigen „Angreifer“ her. Der Abstand zwischen beiden verringert sich, und für Passanten ist vorhersehbar, was nun ablaufen wird: der wütende Verfolger wird dem Fußgänger nicht gerade freundlich auf die Schulter tippen oder mit dem Finger drohen. Eine Schlägerei scheint unausweichlich, und der Flüchtende kann sich ausrechnen, daß er den kürzeren ziehen wird.

Doch dann geschieht etwas, was den bis dahin kaum spektakulären Ablauf durchbricht, was das gängige Machtgefüge zwischen Autofahrer und Fußgänger auf den Kopf stellt, die Täter-Opfer-Konstellation umkehrt: Kurz bevor ihn der erboste Autofahrer am Schlafittchen packen kann, zieht der flüchtende Fußgänger eine Pistole aus der rechten Manteltasche und feuert einen Schuß ab.

Vielleicht hat er ihn nicht gehört, vielleicht war er zu wütend, um sich davon zurückhalten zu lassen, jedenfalls rennt Peter Dünnebacke weiter auf den inzwischen rückwärts laufenden Flüchtenden zu. Der ruft noch „Mensch, bleib stehen. An dem Auto ist doch gar nichts.“ Aber Dünnebacke fordert - offenbar zum Bluff - eine imaginäre Person im Rücken seines Gegenübers auf: „Pack ihn!“ Und da zieht der junge Mann ein zweites Mal die Pistole. Er zielt aus zwei bis drei Metern Entfernung. Peter Dünnebacke sinkt getroffen zusammen und verblutet wenig später infolge innerer Verletzungen. Der Täter entkommt in der Dunkelheit unerkannt.

Der „Pistolenschütze vom Pilgrimstein“, wie der Unbekannte fortan in Marburg heißt, versetzt das Universitätsstädtchen in Aufruhr: Phantombilder werden angefertigt, 10.000 Mark Belohnung ausgesetzt, mit Lautsprecherdurchsagen gefahndet.

„Ein Verrückter eben“

Daß eine solche Konfrontation zwischen Autofahrer und Fußgänger in der Luft lag, sagen viele in der 60.000 -Einwohner-Stadt, „aber doch nicht so“. Wut und Ärger über Autofahrer gibt es zur genüge in der engen Stadt mit ihren Fachwerkhäusern, wo beinahe genausoviele PKWs wie Einwohner gemeldet sind. Nicht zufällig befassen sich allein an die 40 Bürgerinitiativen mit Verkehrsproblemen. Beinahe täglich meldet die Lokalpresse Unfälle mit Personenschäden, und bei der Kriminalpolizei häufen sich Anzeigen von Autobesitzern, die über mutwillige Beschädigungen an ihren geparkten Fahrzeugen klagen.

Eigentlich könnte das, was am 8.Februar am Pilgrimstein geschehen ist, sich jederzeit wiederholen, hört man in Marburg, uneigentlich aber doch eher nicht. Denn daß jemand bei einer solchen Bagatellauseinandersetzung gleich schießt, jemanden umbringt, das ist schwer vorstellbar, das hinterläßt Achselzucken, „ein Verrückter eben“, und ratlose Verwirrung.

Die Verwirrung wächst, als zwei Tage später der damals 23jährige Tilmann F. als Tatverdächtiger festgenommen wird und ein Geständnis ablegt. Denn „der Pistolenschütze vom Pilgrimstein“ ist anerkannter Kriegsdienstverweigerer und leistet derzeit seinen Zivildienst in der Marburger Universitätsklinik. In seiner Wohnung findet die Polizei nicht nur ein kleines Waffenarsenal aus Vorderladern, Schreckschuß- und Gaspistole, sondern auch einschlägige Zeitschriften mit Schießanleitungen und Waffenbeschreibungen. Der Fall, der wie ein Alltagskonflikt anfing, in dem mancher sich wiederfinden kann, scheint damit endgültig in den Bereich des Quasi-Pathologischen gerückt.

Fast ein Jahr nach der Tat steht der Kriegsdienstverweigerer Tilmann F. vor Gericht. Am Montag dieser Woche hat die 6.Schwurgerichtskammer des Marburger Landgerichts das Urteil gegen ihn gesprochen: Sieben Jahre Freiheitsstrafe wegen Totschlags, sofortige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, was auf die Strafzeit angerechnet wird. Vier Verhandlungstage lang hatte das Gericht zuvor in ruhiger, einfühlsamer Atmosphäre versucht, die Motive dieser Tat zu klären. Das Thema Aggression und Faustrecht im Straßenverkehr, das unantastbare Heiligtum Auto, spielten im Verfahren so gut wie keine Rolle. Eine gezückte Pistole mit zwei Schuß Munition haben den zunächst ganz alltäglichen Fall zu einem besonderen gemacht, und in diesem Besonderen gibt es offensichtlich nur eine Figur, auf die sich alles konzentriert: Tilman F.

Das Gegenteil eines Django-Typen

Blaß und zurückgezogen verschwindet Tilmann F. fast auf der mächtigen Anklagebank. Der mittlerweile 24jährige wirkt eher wie ein Junge am Ende der Pubertät. Mit seiner Brille und den dunkelblonden Haaren gehört er zur Sorte der jungen Männer, die am ehesten durch ihre Unscheinbarkeit auffallen. Daß Schulkameraden ihn einst als „Hasenzahn“ oder „Streuselkuchen“ gehänselt haben, ist auch heute noch gut vorstellbar.

Tilmann F. ist das Gegenteil eines Django-Typs, und gerade deswegen haben Waffen in seinem Leben eine zunehmend große, gefährliche Bedeutung angenommen. „Wenn ich eine Waffe bei mir habe, fühle ich mich sicher. Ich dachte, ich kann dann auch so auftreten, daß andere Angst vor mir haben, und so eine Auseinandersetzung schon im Vorfeld vermieden wird“, erklärt Tilmann F. und fügt hinzu: „Ich hatte ständig ziemliche Angst.“ Angst, dieses Wort zieht sich durch alle Aussagen Tilmann F.s. Die Angst begegnet ihm in seinem Leben so erschreckend beständig und so real, daß sie aus einem Opfer einen Täter werden läßt.

Die Angst vor Prügel war es, die ihn am 8.Februar auf dem Pilgrimstein die Waffe hatte ziehen lassen, als der Autofahrer Peter Dünnebacke hinter ihm hersprintete. „Aus dem Kraftaufwand und der Energie, mit der er hinter mir herlief, hatte ich das Gefühl, der hat so eine Wut, daß er mich zusammenschlagen will“, schildert Tilmann F. vor Gericht. Und andere Zeugen bestätigen: Sein körperlich überlegener Verfolger blickte bei der hartnäckigen Verfolgungsjagd wutentbrannt drein und war im übrigen nicht gerade der friedfertigste Zeitgenosse. Dünnebackes Ehefrau, die als Nebenklägerin zu recht darum kämpft, daß Tilmann F. sich für den Tod ihres Mannes zu verantworten hat, antwortet auf die Frage nach der Reizbarkeit ihres Mannes diplomatisch, aber deutlich genug: „Mein Mann ist ein Mensch gewesen, der sich sehr für die Familie und das Eigentum eingesetzt hat. Er hat sich nicht alles gefallenlassen, und daß sich jemand am Auto vergreift, das macht man einfach nicht.“

Doch erklärt die Angst, die Notwendigkeit zur Gegenwehr, daß Tilmann F. kurz vor der Tat seine Gaspistole zu einer scharfen Waffe umrüstet, die er in der letzten Zeit „meistens fast immer“ bei sich trug? Tilmann F. hat dafür eine Begründung: Einige Monate vor den Schüssen am Pilgrimstein war es für ihn an seinem Wohnort Rauschenberg, einem Nachbardorf Marburgs, zu einem einschneidenden Erlebnis gekommen. Um einer befreundeten Wohngemeinschaft im Streit mit dem Vermieter beizustehen, hatte er - mit Fotoapparat, Gaspistole und Messer ausgerüstet - tagsüber die Wohnung der Freunde gehütet. Als der Vermieter samt Sohn dann die Tür aufbrach, kam es zu einer Prügelei. Tilmann F. zog eindeutig den kürzeren. Mit Verletzungen kam er ins Krankenhaus, sein Zeigefinger ist seitdem verkrüppelt, und Polizei und Justiz zeigten sich angesichts des juristischen Wirrwarrs außerstande, den Konflikt zu klären.

Ein ungewolltes Kind

Seit dieser Auseinandersetzung lebte Tilmann F. in beinahe krankhafter Angst vor der Familie dieses Hausbesitzers, die mit „weiterer Abrechnung“ drohte. Er setzte die Klinke seiner Wohnungstür unter Strom, um Eindringlinge abzuschrecken, befestigte am Heizkörper ein dickes Seil, das notfalls die Flucht aus dem Fenster ermöglichen sollte und beschaffte sich schließlich in Belgien für seine Pistole Speziallauf und scharfe Munition.

Immer wieder ist Tilmann F. in solche Situationen geraten, in denen er Angst vor Angriffen anderer haben muß. Und stets gewinnt er den Eindruck, völlig schuldlos hineingeschlittert zu sein. Ein Blick auf Tilmann F.s Biographie gibt dafür keine vollständigen Erklärungen. Aber sie zeigt in bestürzender Häufigkeit wiederkehrende Erlebnisse auf. Tilmann F.s Geburt war ein doppeltes Versehen. Er war ein ungewolltes Kind und hatte dazu auch noch das falsche Geschlecht. Wenn überhaupt, hatte sich seine Mutter eine Tochter gewünscht. Tilmann F. leidet schon als Säugling an Asthma. Seine Mutter kleidet ihn gerne als Mädchen, und bis zum heutigen Tag sieht sich Tilmann F. wohl zutreffend als „typisch weiblichen Typ“.

Nach der Geburt der jüngeren Schwester fühlt er sich endgültig abgemeldet. Er versucht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er sich permanent unbeliebt macht. Obwohl überdurchschnittlich intelligent, baut er in der Schule „ständig Blödsinn“, zu Hause kränkelt er. Innerhalb der Familie wird Tilmann wechselseitig Munition im Ehekrieg der Eltern.

Schon seit seinem zweiten Lebensjahr will sich die Mutter eigentlich vom Vater trennen. Sie schafft es aber erst fünfzehn Jahre später. Als die Eltern sich scheiden lassen, will Tilmann beim Vater bleiben, zu dem er noch heute guten Kontakt hat. Aber er paßt nicht in dessen damalige Lebensplanung und kommt deshalb zur Mutter. Jahrelang erleben die Kinder emotionale Wechselbäder und und permanente Spannungen. Tilmann wechselt häufig die Schule, kommt zeitweilig ins Internat und bleibt überall Außenseiter. Fast magisch scheint er die Aggressionen der Mitschüler auf sich zu ziehen.

Im Schulbus wird er regelmäßig von Jungens aus dem Nachbardorf verprügelt, auf dem Schulhof gerät er, der Asthmatiker, immer wieder in den „Schwitzkasten“. „Tilmann war einer der Schüler, die es immer abgekriegt haben, wenn jemand sein Mütchen kühlen wollte“, sagt sein ehemaliger Klassenlehrer im Zeugenstand. „Ängstlich und manchmal altertümlich zurückhaltend“, beschreibt ihn ein väterlicher Freund. „Seine Kommunikationsweisen waren befremdlich, er war verhärmt und zurückgezogen, und das reizte die anderen, ihn immer wieder vorzuzuführen. „Sie haben ihn psychisch gequält“, erinnert sich der Schulleiter sehr genau. Seine ehemaligen Mitschüler können es nur so beschreiben: „Den F. mochte eben niemand, weil er so war, wie er war. Der war immer so ruhig und hatte einfach andere Interessen als wir“.

Die Lehrer registrieren zunehmende Aggressivität

Tilmann selbst findet vorübergehend Anschluß an eine Motorradclique aus Studenten. Er macht mit ihnen Touren, diskutiert über Politik und fühlt sich erstmals richtig wohl. In der Schule lobt ihn der Sozialkundelehrer für sein „hohes Maß an Einfühlsamkeit“ bei sozialer Ungerechtigkeit. Tilmann sei „einer der wenigen gewesen, die sich über den Unterricht hinaus mit Sozialkundethemen beschäftigt haben“. Daß er dann später den Kriegsdienst verweigert habe, sei nicht überraschend gekommen.

Allerdings registrieren die Lehrer auch, daß Tilmann sich zunehmend aggressiv zur Wehr setzt, wenn er gehänselt wird oder sich bedroht fühlt. Die Schulakten vermerken einen Biß in die Hand eines angreifenden Mitschülers, und als er in der 10.Klasse wieder einmal in den „Schwitzkasten“ genommen wird, zieht Tilmann überraschend eine Gastpistole. Er schießt dem Angreifer direkt ins Gesicht und sorgt damit an der Schule für einen mittleren Skandal. Die Lehrer halten angesichts der „besorgniserregenden Bedrohungsgefühle“ des Tilmann F. „eine therapeutische Behandlung für dringend nötig“. Ob die tatsächlich stattfindet, darum kümmert sich die Schule dann nicht mehr.

Tilmann F. rüstet immer mehr auf. Er beschafft sich „halt das, was ich kriegen konnte“. Stufenweise legt er sich Gaspistole, Vorderlader, Armbrust und schließlich die scharfe Waffe zu. Daß er gleich ein ganzes Arsenal braucht und hin und wieder auch Schießübungen im Wald macht, ist schließlich nicht mehr allein mit seiner Angst zu erklären.

Waffen haben für ihn eine unübersehbare Faszination gewonnen. Während des Gerichtsverfahrens muß sich Tilmann F. beinahe bemühen, nicht allzu fachmännisch über verschiedene Waffengattungen und Kaliber zu reden. Und paradoxerweise hat auch seine Wehrdienstverweigerung zumindest teilweise mit dieser Faszination tun. „Im Prinzip finde ich das auch nicht so gut mit den Waffen“, erklärt er, und „im Prinzip“ sei er, der vom Vater zum Pazifismus Erzogene, auch gegen „gewalttätige Auseinandersetzungen wie Krieg und so“. Auf Nachfragen räumt er jedoch ein: er habe auch Angst gehabt, bei der Bundeswehr seinen Hang zu Waffen zu kultivieren.

Tilmann F.:

„Fast wie eine Zeitbombe“

Daß er jetzt mit einer dieser Waffen einen Menschen getötet hat, ist bei Tilmann F. auch nach einem Jahr Untersuchungshaft noch nicht angekommen. Mit beinahe schnoddriger Naivität sagt er, er habe gedacht, „es würde nichts passieren“, als er am 8.Februar die Waffe auf seinen Verfolger richtete. Daß er damit jemanden umbringen könne, „habe er sich nicht so vergegenwärtigt“. Da habe er sich wohl „zu wenig Gedanken gemacht“. Nach der Tat habe er sich „von der Sache ziemlich gerädert“ ins Bett gelegt. An die Ehefrau des Getöteten, die ihm als Nebenklägerin gegenüber sitzt, richtet er kein Wort des Bedauerns.

Wie umgehen mit dieser Tat und diesem Menschen? Ihn freisprechen, wie es seine Verteidigerin in ihrem Plädoyer fordert, weil Tilmann F. eindeutig in Notwehr gehandelt habe? Aber wohin dann mit der Tatsache, daß einige seiner Freunde und auch sein Schulleiter bei den ersten Zeitungsberichten über die Tat spontan dachten, „das könnte der Tilmann gewesen sein“? Was anfangen auch mit den Angstgefühlen und der Waffenfaszination, die nicht weggewischt wären, wenn Tilmann F. als freier Mann den Gerichtssaal verließe?

Ihn also einsperren ins Gefängnis oder in eine geschlossene psychiatrische Anstalt, damit er „als ganz normaler Gefangener lernt, daß er auch Täter ist und nicht mehr glaubt, er müsse anders sein als alle anderen und auch anders behandelt werden“, wie es die psychiatrisch -psychologische Gutachterin, die Professorin Iris Dauner, dem Gericht empfiehlt?

Ihrem Gutachten zufolge ist Tilmann F. „fast wie eine Zeitbombe“. Er erlebe Dinge als bedrohlich, die niemand anders als bedrohlich empfinde, neige zu „starken Oppositionstendenzen und Querulantentum“, befindet die Sachverständige. Seine „Persönlichkeitsstörung“ und die „Realitätsverkennung“ seien so massiv, „daß die Wiederholungsgefahr extrem groß wäre“, lautet ihre Diagnose.

An diesem vernichtenden Urteil der renommierten Professorin traut sich auch das Gericht nicht vorbei, denn wer trägt die Verantwortung, wenn das eintreten sollte, wovor die Gutachterin warnt? Die Schwurgerichtskammer entscheidet sich schließlich für einen folgenreichen Weg: Sie sieht eine Notwehrsituation ganz entschieden als nicht gegeben und verurteilt Tilmann F. wegen Totschlags. Der Verfolger Dünnebacke, so urteilen die Richter mit einem gehörigen Schuß Realitätsverkennung, hätte ja gar nichts anderes getan, als hartnäckig hinter dem Angeklagten herzulaufen. Daraus könne man nicht folgern, daß er Tilmann F. an den Kragen wollte. Nur: Seinerseits zum Täter zu werden, dazu hatte Autofahrer Dünnebacke auch gar keine Gelegenheit mehr.

Das Gericht billigt dem Angeklagten Tilmann F. zwar verminderte Schuldfähigkeit zu und erkennt strafmildernd auch an, daß er sich subjektiv in einer Notwehrsituation geglaubt habe. Aber beim Strafmaß, das in diesem Fall für Totschlag zwischen zwei und elf Jahren liegt, greifen die Richter in den oberen Bereich: Sieben Jahre Freiheitsstrafe, zu verbüßen in einem psychiatrischen Krankenhaus.

„Ein Hammer“, wie Tilmann F.s Verteidigerin befindet. Sie kündigt sofort Rechtsmittel gegen das Urteil an. Im psychiatrischen Krankenhaus Haina, wo Tilmann F. nun die nächsten Jahre verwahrt werden soll, wird er zwar unter permanenter Kontrolle sein. Ob ihm das hilft, seine Ängste zu bewältigen und sich nicht weiter nur als Opfer zu begreifen, ist eher fraglich. Zumindest, was die Höhe der Strafe angeht, kann Tilmann F. sich auch weiterhin in seiner alten Rolle fühlen.

Genau einen Monat vor diesem Urteilsspruch hatte ein anderes Gericht einen anderen Maßstab angelegt: Vor dem Aachener Landgericht kam ein 31jähriger Referendar mit einer elfmonatigen Bewährungsstrafe davon. Auch hier war ein Auto der Anlaß des gewaltsam ausgetragenen Konflikts: Der Angeklagte hatte nachts einen unbewaffneten Autoknacker ohne Vorwarnung mit einem Kleinkalibergewehr erschossen, als der sich gerade an seinem PKW zu schaffen machte.

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