: „Ich bin gekommen, um den Krieg zu töten“
■ 800.000 Frauen meldeten sich im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion freiwillig an die Front. Die russische Journalistin Swetlana Alexijewitsch hat sich mit 700 Veteraninnen getroffen und ihre Erzählungen aus diesem „anderen Krieg“ gesammelt und publiziert
Nachthexen“ nannten die deutschen Faschisten jene sowjetischen Fliegerinnen, die der Wehrmacht an der Front das Leben zur Hölle machten. Alexandra Semjonowna Popowa war eine von ihnen. Im Mai 1942 flog sie ihren ersten Einsatz mit einem „PO-2“, einem leichten Doppeldecker aus Sperrholz, bespannt mit Segeltuch. Vor dem Krieg hatten Jugendliche in der Sowjetunion auf diesen Maschinen die Sportfliegerei gelernt. Später wurden an die unteren Tragflächen vier Bombenträger montiert - und fertig war das Kriegsgerät. Am Anfang hatten die FliegerInnen weder einen Fallschirm noch ein MG an Bord. Beim ersten Volltreffer fing die leichte Konstruktion Feuer und verbrannte, noch bevor sie am Boden aufschlug. 365 Einsätze hat Alexandra Semjonowna Popowa gegen Kertsch, Sewastopol, Brest, Warschau und Berlin geflogen - und überlebt: hochdekoriert mit Orden und einem Herzen voller Infarktsnarben.
Eine von über 800.000 (in Worten: achthunderttausend) sowjetischen Frauen, die sich zwischen 1941 und 1945 freiwillig an die Front meldeten, um im großen „Vaterländischen Krieg“ ihre „patriotische Pflicht“ zu erfüllen. Siebenhundert von ihnen hat die belorussische Journalistin Swetlana Alexijewitsch, Jahrgang 1948, getroffen. Sie hat mit ihnen lange Gespräche geführt, korrespondiert „Vier qualvolle Jahre“ ist sie „die brandgeschwärzten Wege fremder Leiden und Erinnerungen“ gegangen. „Die Heimat war uns
das Teuerste“
Hunderte von Einzelschicksalen hat sie aufgezeichnet: von Ärztinnen und Krankenschwestern, Nachrichtensoldatinnen, Pionierinnen, Fliegerinnen, Scharfschützinnen, Panzerfahrerinnen, Fallschirmspringerinnen, Matrosinnen, von Angehörigen der Nachschub- und Versorgungstrupps, von Partisaninnen und Widerstandskämpferinnen. Zeugnisse von einem „anderen“ Krieg, der in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum zu finden ist. Hier überwiegt das Entsetzen über den ersten Todesschuß, das Grauen angesichts blutgetränkter Schlachtfelder und niedergebrannter Dörfer, der Schmerz über den Tod von Angehörigen und KameradInnen. Hier stehen nicht die Erinnerungen an militärische HeldInnentaten im Vordergrund. Bewegende Zeugnisse, die unter großem psychischen Einsatz - der Erzählerinnen wie der Zuhörerin - dem Vergessen regelrecht entrungen wurden. „Wenn ich alles erzähle, was gewesen ist, werde ich nicht so leben können wie alle anderen. Es wird mich krank machen. Ich kam lebend aus dem Krieg... Aber ich war lange Zeit krank, so lange, bis ich mir sagte, du mußt alles vergessen, sonst wirst du nie gesund“, sagt Ljubow Sacharowna Nowik, einst Sanitätsunteroffizierin. Andere hingegen sind froh, „daß ich mich jemandem mitteilen kann, daß auch unsere Zeit gekommen ist.“ Denn viele „Frontkämpferinnen wurden zwar für ihre Verdienste geehrt und dekoriert, aber sie verschwanden später aus der kollektiven Erinnerung. Wider die „weibliche Natur“
„Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, hat Swetlana Alexijewitsch ihre Zeitzeuginnen-Sammlung überschrieben. Sie erschien 1984 in der Sowjetunion, Ende 1989 brachte sie der westdeutsche Galgenberg-Verlag heraus. Immer wieder hebt die Autorin darin den quasi „natürlichen“ Widerspruch zwischen Frau und Krieg, zwischen Leben schaffen und zerstören, hervor. Aber über 800.000 Frauen, Mädchen setzten sich über ihre „weibliche Natur“ hinweg - mehr als je in einem anderen Krieg - und ergriffen das blutige „Männerhandwerk“. Sie waren 20, 18, 16 Jahre und jünger noch. Manche fälschten ihr tatsächliches Alter oder erkämpften sich mit anderen Tricks ein Bleiberecht an der Front. Warum? „Heimat“, „Ehre“, „Freiheit“ - mit diesen Idealen waren sie, viele von ihnen Mitglieder des kommunistischen Jugendverbands (Komsomol), großgeworden. „Unsere Sache ist gerecht“, hatte Außenminister Molotow nach dem völlig überraschenden Überfall der deutschen Faschisten auf die Sowjetunion ausgerufen. Und nun wollten die Frauen nicht in der Nachhut oder zu Hause zurückbleiben. Gleichberechtigung, so hatte sie die Krupskaja, Lenins Lebensgefährtin, gelehrt, hieß für die jungen Frauen, ihren Mann zu stehen. So verließen sie Schule, Studium und ihre Familien, denn: „Das Teuerste war uns die Heimat.“
An der Front allerdings wollte man die Frauen zunächst überhaupt nicht. Weil es eine Schande für die Rote Armee war, daß sie bereits auf Frauen zurückgreifen mußte. Weil man um die Truppendisziplin bangte, oder weil man einfach nur Mitleid mit den jungen Dingern hatte. Dann aber ging es bald nur noch um „Sein oder Nichtsein des Volkes“, es herrschte Not am Mann, und so konnten sie bleiben. Geehrt, beschimpft, vergessen
20 Millionen Menschen sind in der Sowjetunion in jenem Krieg zu Tode gekommen. Für die Überlebenden galt es, wieder einen „Alltag“ zu finden. Aus den Kriegerinnen, die vier Jahre lang ihr Geschlecht verleugnen mußten, sollten nun - und sie wollten es ja auch selbst so sehr - wieder „normale“ Frauen werden, Bräute, Ehefrauen, Mütter. „Der Krieg war zu Ende, und plötzlich ging einem auf, daß man studieren, eine Familie gründen und Kinder in die Welt bringen mußte. Daß unser Frauenleben eigentlich erst begann. Und wir waren doch so müde, seelisch abgekämpft...“, erzählt Lidia Wassiljewna Ananenko, ehemalige Arzthelferin. Nach vier Jahren Blut und Zerstörung war es jedoch schwierig, wieder mit Röcken, Stöckelschuhen und Schminkzeug umzugehen. Frontkämpferin gewesen zu sein, war bald keine Ehre mehr. Als „Feldmatratzen“ wurden sie beschimpft, als „leichte Mädchen“. Viele ehemalige Soldatinnen warfen daher ihre Wehrpässe fort. Da sie aber ohne Papiere keinen Anspruch auf Zusatzrenten oder sonstige Leistungen geltend machen konnten, leben viele Veteraninnen heute in sehr ärmlichen Verhältnissen.
Tod und Zerstörung prägten den Kriegsalltag. Eingebettet in die Erinnerungen der Frauen aber sind zahlreiche „menschliche“ Momente des Mitleids, der Hilfe bis zur Selbstaufopferung, der Liebe. Die Autorin deutet allerdings an, daß einige ungeschminkte Aussagen von den Erzählerinnen später zurückgenommen und beschönigt wurden. Nichts steht im Buch darüber, daß den russischen Frauen im Krieg nicht nur von den Deutschen Gewalt angetan wurde, sondern daß sich auch immer wieder „Kameraden“ und Vorgesetzte an der Front an ihnen vergriffen. Darüber berichtete Swetlana Alexijewitsch aber bei einem Vortrag Ende 1989 in West -Berlin. Eine ihrer Gesprächspartnerinnen hatte ihr zum Beispiel erzählt: „Am besten war es während des Kampfes, da waren Frauen und Männer gemeinsam gegen die Faschisten. Am schlimmsten waren die Kampfpausen. Diese Männer waren vier bis fünf Jahre ohne Frau. Besser wäre es gewesen, es hätte Bordelle gegeben. Aber das ließ unsere Ideologie nicht zu.“ Kult ums „Mutterherz“
Dagegen sind die Kinder ein wichtiges Thema für alle. Die Kinder, die sie während des Krieges zur Welt brachten oder verloren, die sie entweder bei Verwandten oder Bekannten zurückließen oder in manchen Fällen mit an die Front nahmen. Und immer schwingen Schuldgefühle mit, daß sie ihnen die Grauen des Krieges nicht ersparen konnten.
„Es gibt auf der Welt nichts Edleres als dies von einer Mutter dargebrachte Opfer. Aber wer hätte damals in ein Mutterherz schauen können, um zu erfahren, was darin vor sicht geht?“ Leider geizt Swetlana Alexijewitsch mit solchen und ähnlichen Kommentaren nicht. Da ist von der „Wesensart der Frau“ die Rede und „Mutter ist das höchste aller Wörter“. Und „all unser Wissen um die Frau läßt sich am genauesten mit dem Begriff Barmherzigkeit umschreiben“, heißt es gleich in der Einleitung. Wegen dieses mütterideologischen Ballasts möchte die Leserin die Autorin heftig kritisieren, sie ansonsten aber loben für ihr wichtiges und spannendes Zeitdokument.
Ulrike Helwerth
Swetlana Alexijewitsch: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Verlag Galgenberg, 1989
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