„Ein Sicherheitsnetz für Europa“

Außenminister Genscher plädiert für gemeinsame Grenzgarantie und eine „Verstetigung des KSZE-Prozesses“ / Vor der Moskaureise mit Bundeskanzler Kohl legte er konkrete Vorschläge für transnationale europäische Institutionen vor / Kein deutscher Sonderweg  ■  Aus Potsdam Anna Jonas

Einen Tag vor dem Blitzbesuch in Moskau hat sich Außenminister Genscher gestern in Potsdam bemüht, eine Position zu umreißen, mit der die Besorgnisse der Sowjetunion im Hinblick auf die deutsche Einheit ausgeräumt werden könnten - während wenig später die Bundesregierung durch gezielte Informationen die Sowjetunion weniger freundlich unter Druck setzte (siehe nebenstehenden Kasten).

Im Hinblick auf eine notwendige neue europäische Friedensordnung könnten die beiden deutschen Staaten - und zwar gleich nach den Wahlen in der DDR - „wichtige Stabilitätsbeiträge“ leisten, sagte Genscher. So könnten die DDR und die Bundesrepublik in „einer gemeinsamen Erklärung“ eine „Grenzgarantie an alle unsere Nachbarn“ abgeben und ebenso den „Verzicht auf die Herstellung und den Besitz atomarer, chemischer und biologischer Waffen“ bekräftigen. Genscher sprach am Freitag morgen auf einer Tagung, die das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI und das Institut für Politik und Wirtschaft (IPW) der DDR erstmals gemeinsam veranstalteten.

Genscher wollte noch einmal deutlich machen, daß eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten dem europäischen Integrationsprozeß nicht entgegenstehen muß, wie manche Regierungen befürchten, ihm statt dessen hilfreich sein und ihn sogar beschleunigen kann. Die wirtschaftliche Stabilisierung und Entwicklung der DDR sei kein Monopol der Bundesrepublik, sondern eine Chance für alle westeuropäischen Staaten, sagte Genscher. Es gebe, auch für die osteuropäischen Staaten, bereits „Interessenten von weither, die schon mit genauen Marktanalysen befaßt sind“. Genscher sprach sich für eine „Verstetigung des KSZE -Prozesses“ aus, dessen Beginn er noch vor Ablauf dieses Jahres für wünschenswert hält, und machte detaillierte Vorschläge dazu. Er nannte unter anderem ein Zentrum für die Schaffung eines europäischen Rechtsraumes mit dem Ziel einer Rechtsangleichung, eine „europäische Umweltagentur“, ein Verifikationszentrum und ein „europäisches Konfliktzentrum“. „Entscheidend wird sein“, fügte er hinzu, „ein Sicherheitsnetz zu schaffen für die vorhersehbaren und nicht vorhersehbaren Entwicklungen in Europa“.

Sicherheit war das Stichwort für Egon Bahr: Er wollte von Genscher wissen, ob nicht „eine Sechs-Mächte-Konferenz“, also eine Konferenz der vier Siegermächte unter Beteiligung der beiden deutschen Staaten, längst notwendig sei, um wenigstens die völkerrechtlichen Fragen und damit den Rahmen zu klären, innerhalb dessen die Bundesrepublik und die DDR sich bewegen können. Was würde geschehen, fragte Bahr, falls die „zeitliche Synchronisation“ umgekehrt verliefe, eine deutsche Vereinigung also vor oder ohne Beruhigung der Nachbarn stattfände? Für diesen Fall konnte Genscher sich einen „unterschiedlichen Status“ in den beiden deutschen Territorien vorstellen. Der Status von Berlin könne dafür beispielgebend sein.

In diese Richtung geht auch das Lösungsmodell einer entmilitarisierten DDR, das am Vorabend der Regierende Bürgermeister Momper erläutert hatte. Die DDR könne gemäß einer Zusatzvereinbarung zum Warschauer Vertrag von 1955 im Falle der deutschen Vereinigung ihr Bündnis verlassen. Daraus ergibt sich, so Momper, „daß die DDR Fortsetzung auf Seite 2

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nach dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung von ihren Bündnisverpflichtungen frei ist“. Diese Lösung vermeide die negativen Aspekte der anderen Vorschläge und sei eine akzeptable Übergangslösung.

Wirtschaftsministerin Christa Luft, die die Tagung am Donnerstag nachmittag eröffnet hatte, konnte sich ein vorläufiges Verbleiben der beiden deutschen Staaten im jeweiligen Bündnis vorstellen - damit ging sie auf Distanz zum Modrow-Plan. Eine deutsche Konföderation sah sie inzwischen nur noch als Schritt auf dem Wege zu einer Föderation an;

um diesen Sachverhalt käme keine Regierung, keine politische Partei in der DDR mehr herum.

Einig war man sich in Potsdam darin, daß es einen „deutschen Sonderweg“ nicht geben dürfe, und schon Neutralität sei heute ein Sonderweg angesichts einer zunehmend integrierten Weltwirtschaft. Fragen von 1990 könne man nicht mit Vorstellungen von 1950 beantworten, brachte dies Momper auf den Begriff.