ENTGLEISTER SPEZIALIST

■ „Der Hanullmann“ im Ensembletheater

Auf zwei Schienen gleichzeitig wird man durch diesen Theaterabend bewegt. Die eine Schiene führt vorbei an Fallerhäusern, grünen Grasmatten und, über unterirdisch gelegene Streckenabschnitte, schließlich hinauf zum Bahnhof Schönblick.

Die zweite Schiene führt in mehreren Schleifen und schließlich immer steiler hinab in des Mannes Wunschwelt, hin zum Objekt seiner Begierde, das zunächst Modelleisenbahn, dann Frau und zuletzt Deutschland heißt.

Herr Roland Appelmann alias Guntram Wischnewski, der uns als solchermaßen doppelter Führer mitnimmt auf rasante Fahrt, ist ein Spezialist für Modelleisenbahnen des H -0(sprich „hanull“)-Typs und weiß, warum er angetreten ist zur Aufklärung über die in der Modelleisenbahn schlummernde Gewaltpotenz. Überzeugend spricht er zu der versammelten Modelleisenbahnfangemeinde von der kathartischen Erfahrung, die ihm seine erste stationäre Anlage von 8qm zuteil werden ließ. Denn als auf Optimierung bedachter Besitzer trimmte er den Motor seiner H0-Lock auf reale 30-Stundenkilometer -Geschwindigkeit hoch, so daß der Zug schon in der ersten Kurve aus den Schienen sprang, ins freie Gelände schoß, umkippte und Feuer fing. Das Feuer, das sich rasch ausbreitete und auf das andere Flußufer übergriff, setzte binnen kurzem das Fallerdorf in Brand und weitete sich schließlich zu einem ordentlichen Wohnungsbrand aus. Der Lokführer schmolz in das Kunststoffgehäuse ein...

Zur Verdeutlichung enthüllt Herr Appelmann auf einem Podest die verkohlten Reste seiner Anlage, unter der sich eine Kette von Feuerlöschern hindurchwindet. Geläutert ist er nunmehr zum vehementen Verfechter von ANM geworden: der „absoluten naturgetreuen Maßstabsgerechtigkeit“. Es müsse endlich gesprochen werden, so Herr Biedermeier in Oratorenpose, von der durch die H0-Typisierung bedingten haarsträubenden Abweichung vom großen Vorbild, die dazu führe, daß München 200 Meter neben Würzburg zu liegen käme, und daß, wenn die Lok in den Bahnhof Hamburg-Altona einfahre, der Quickpick gerade in Bebra um die Ecke biege. Diese Maßstabslosigkeit sowie die gängige Überausstaffierung von Eisenbahnanlagen mit dem drohenden Ende der Schrottplatzhaftigkeit müsse umgehendst beseitigt werden durch radikale Ausmusterung der serienmäßig gefertigten Spielwarenprodukte - absolute Vorbildtreue sei die Losung für zukünftigen Modellbau. In der Beschränkung zeige sich der Meister: Er, Herr Appelmann, habe sich auf den einfachen Streckenabschnitt einer nicht elektrifizierten Bahn durch eine rein belassene Naturlandschaft beschränkt.

Während der Vortragende so einerseits den Zuschauer von der Notwendigkeit wahrheitsgetreuer Umstrukturierung von Eisenbahnanlagen zu überzeugen versucht, geht es mit ihm auf der anderen Schiene dahin: In dem Maße, wie er in den „Anderen“ (seine zerstörte Modelleisenbahnanlage) hineinsteigt, steigt er immer tiefer in seinen verkohlten Gefühlshaushalt hinab und läßt den wahren Antriebsmotor seiner Mission sichtbar werden: den Übervater, Uniform, Reichsmarine, freiwilliger Dienst an der Wunderwaffe, kein feiger Sack und kleiner Wicht wie er selbst. Schlageerinnerungen tobt er aus, indem er auf die Anlage und auf sich selbst einschlägt. Die absolute Maßstabsgerechtigkeit erweist sich plötzlich als eine für das Modell Deutschland: „Wir müssen unserem Vaterland wieder Ecken geben, wir müssen den weißen Fleck wieder bewohnbar machen.“

Obwohl die im Text von Christian Ebert vorgegebene Streckenführung von Fallerkleingärtnerei und Modellbahnkleinkrämerei zu nationalsozialistischem Sauberkeits- und Ordnungswahn vielleicht etwas simpel und eingleisig geraten ist, lohnt sich doch der Einblick in die zwar mit wenig Weichen und Nebengleisen ausstaffierte, dafür unter der Regie von Carsten Hueck ziemlich schonungslos ausgestellte Seele des Herrn Appelmann, der die erste Hure, die nicht ein Loch wie eine „ausgeleierte Einkaufstasche“ hat, heiraten möchte und der daher Penthouse mit ordentlichem Familienleben und gute Kinderstube mit Reinrassigkeit zusammenkoppeln kann.

Michaela Ott

Bis zum 22. Februar, außer Di. und Mi., 20.30 Uhr, im Ensembletheater am Südstern, Hasenheide 54, Tel. 692 32 39