Die Sprache der Revolution

■ Das tautologische Traumbild des Allgemeinen Willens: Ein jeder spreche zugleich für sich und im Namen Aller

Fritz von Klinggräff

Das Suhrkamp-Bändchen Sprache und Politik in der Französischen Revolution von Jacques Guilhaumou schreibt die Geschichte der revolutionären Sprache von ihrer Geburt in den Cahiers de Doleances bis zur Ausbildung des jakobinischen Diskurses. Pünktlich zur Jahrhundertfeier ist es - zeitgleich auf Französisch und Deutsch - im vergangenen Sommer erschienen. Seine Analyse revolutionärer und konterrevolutionärer Sprechakte hat mit dem festlich aufgetakelten Bücherwust nur wenig gemein.

Vorauszuschicken wäre das eine: Guilhaumou ist ein jakobinischer Fuchs, der auch noch mit schlechten Karten zu pokern versteht. Wer in Frankreich der Zunft angehört, wußte seit Jahren: Zum Fest geladen würde nur, wer sich dem Konsens unterwirft, die alte Tante Revolution im neuen Kleid eines kulturellen Großereignisses zu präsentieren. Auf Kultur liegt die Betonung. Abgehalftert sind politische Ereignisgeschichte und bürgerliche Revolution; die sozialen Fortschritte, so dozierte die Festgemeinde, waren das Blut nicht wert, das man für sie vergoß. Aber eine Kulturrevoltuion war's. Darüber mochte man sich - ob Neo -Liberaler oder Spätmarxist - noch rechtzeitig zum Festtermin einigen. So bedurfte es in diesem Jahr nicht nur guter Beziehungen, sondern auch subversiver Energien und methodischen Avantgardebwußtseins, um wissenschaftliche Marksteine zu setzen. Beides zeichnet Jacques Guilhaumou aus.

Der Diskursanalytiker Guilhaumou ist auf der Höhe jener Zeit vor 200 Jahren, als eine Herrscherin zu Glanz und Ehren kam, die heute längst verarmt und hilflos scheint: Die Sprache der Öffentlichkeit. In den reichen sieben Jahren zwischen 1788 und 1794 zeigte diese Sprache all ihre Macht und schier unbezähmbare Gewalt.

Es war im Sommer 1788, als der König selbst die Order zur Einsetzung jener Nachfolgerin gab. Mit der Einberufung der Generalstände erläßt er zugleich den Befehl an das Volk, all seine Klagen und Bitten zu sammeln und niederzuschreiben. Und so entstehen innerhalb eines Jahres in jedem Amtsbezirk des alternden Sonnenkönigreichs, in jeder noch so kleinen ländlichen Gemeinde die Cahiers de Doleances. Niemals zuvor und niemals wieder gab es Vergleichbares: Ein ganzes Volk - streng getrennt nach Ständezugehörigkeit - verfaßt seine Klageschrift. Die Cahiers de Doleances sollten bis heute das meistdiskutierte Dokument der Revolution bleiben. Kein Historiker, der sie nicht nach ihrem Wahrheitsgehalt befragte - und keiner, der ihnen nicht die Gretchenfrage stellt: Ist die Revolution hier schon angelegt?

Unter dem ordnenden Blick des Diskursanalytikers bekommen jene Briefe, die der König befahl, ihr Eigenleben; ein „Wir“ entspringt den archiviuerten Papierbergen, ein merkwürdig neues Subjekt, das in seiner Antwort an den König nicht mehr als Empfänger seiner Gnade auftritt, sondern zum Fordernden, zum Sender, wird: zum Staatsbürger. Der Postbote bringt Ludwig die Nachrichten vom Volk - und in seinen Händen entsteht wie im Labor des Zauberlehrlings eine artifizielle Figur, die er nicht mehr zu meistern versteht. Das Volk, das bis dahin des Königs war, wird in der anschwellenden Sammlung der Beschwerdebriefe, zum täglich sich erneuernden Subjekt der Rede: „Wir, das französische Volk...“

Wie dieses „Wir“ von einem grammatischen Subjekt zu einem reflexiven wird, wie also der Citoyen beginnt, sich als ein solcher zu fühlen - diesen Weg beschreibt Jacques Guilhaumou. Er führt den Lesern, teils in gewagten Schritten, oft mit schnellen, widerspruchheischenden Schlüssen von den ersten Ursprüngen einer allgemeinen literarischen Öffentlichkeit, den Cahiers de Doleances, hin zu Schreibakten, die sich im strengen Sinne als öffentliche wollen. Hemmungslos beklaut Guilhaumou zu diesem Zwecke jene, die ihm in fast zwanzigjähriger Arbeit den Weg ebneten, Regine Robin oder Denis Slakta, auch die deutschen Freunde Hans Ulrich Gumbrecht und Barbara Schlieben-Lange. Doch ist dies nur zum Wohle des Lesers, der in seinem Buch wie in einem Hehlerladen trefflich stöbern kann. Wegmarke für Wegmarke verfolgt Guilhaumou jenen ziemlich wüsten Pfad eines neuen Diskurses, den er die „Srache des Rechts“ nennt, und der mit dem Naturrecht nicht nur einen neuen Referenten erfindet, sondern, wie zwangsläufig, auch neue Sprecher und Hörer.

Doch das braucht seine Zeit. In der zentralen Gestalt des Staatsbürgers fängt diese postalische Trennung von Sender und Empfänger erst einmal gefährlich an zu schillern, denn noch weiß kaum einer, ihre Figur - die Selbstpräsentationen

-auf ihren zirkulären Weg zu zwingen. Wie läßt die neue, die staatsbürgerliche Kluft zwischen Norm und Eigeninteresse sich vermitteln? Schnell hat die deutsche Philosophie den Begriff parat: Pflicht zur Freiheit. Wie aber bildet sich praktisch Demokratie und das Ideal des Gemeinsinns?

Die Nationalversammlung zumindest, die am 17.Juli 1789 aus der Taufe gehoben wird, sieht sich von Anbeginn weniger als die gewählte Ansammlung von Staatsbürgern, denn als die Repräsentantin einer neuen Welt, des Rechtsraumes Staat. „Die versammelte Nation kann keine Order erhalten“, antwortet der Abgeordnete Bailly dem König, der die Auflösung der Nationalversammlung befiehlt. Damit ist die repräsentative Demokratie geboren. Der König, aber auch das Volk der Klageschriften, verschwinden hinter der kleinen Elite der „versammelten Nation“.

Doch so leicht sollte sich der neue Signifikant „Wir“ nicht bändigen lassen. Im Oktober 1789 kommt es zum Marsch der Frauen auf Versailles. Mit ihrem Sprecher Maillard tritt die neue Figur des „Wortführers“ auf die politische Bühne. In ihm entdeckt Jacques Guilhaumou jene Instanz, die das schwierige Spiel demokratischer Selbstpräsentation vorbildlich praktiziert: Inkarnation jenes Staatsbürgers, der ohne Auftrag handelt und doch in der Verpflichtung, jederzeit sowohl für sich wie im Namen aller zu sprechen.

Mit Emphase vertritt Maillard die Interessen der Marktfrauen vor der Nationalversammlung. Diese handeln nach ihrer Facon. Mit dem Schlachtruf „Freiheit und Brot“, das im drohenden „und“ den alten Ruf nach Befriedigung der materiellen Bedürfnisse an die neue Forderung nach politischer Partizipation bindet.

Robespierre gehörte zu den ersten, die diesen Ruf aufnahmen und politisch interpretierten. Wenn in Paris die Sansculotten auf die Straße gingen, wenn sie mit dem Ruf nach Brot oder nach der „terreur auf der Tagesordnung“ den Konvent belagerten oder wenn sie die Tuilerien stürmten, dann deklamierte Robespierre: „Das Volk ist das Volk“.

Mit diesem Grenzfall der logischen Rede errang er seine rhetorische Macht - Robespierre verkörperte die neue Figur des „Gesetzgebers„ avant la lettre. Für einige Jahre ersetzte er den Inbegriff der bürgerlichen Revolutuion, das Naturrecht und seinen juristischen Raum, durch das tautologische Traumbild des Allgemeinen Willens: Ein jeder spreche zugleich für sich und im Namen Aller. Die „Sprache des Rechts“ wird zur „Sprache des Volks“, zum Gesellschaftsvertrag, und der ehemalige Empfänger der machtvollen Rede, das Volk, wird zugleich zu ihrem Sender und zu ihrem einzigen Gegenstand.

Wie das praktisch vonstatten gehen soll? Nun, sagt Guilhaumou, es bedarf dafür des einen, der jenseits der Gemeinschaft steht, des Gesetzgebers, der dem Volk sagt, daß es sich will: Robespierre. Jacques Guilhaumou zitiert alle Eminenzen der Philosphioe von Rousseau über Fichte bis Derrida, um diese listige Rehabilitierung Robespierres zu inszenieren. Der Volkstribun gibt sich als Opfer, damit sich das neue gesellschaftliche Wissen von der staatsbürgerlichen Einheit stabilisieren kann.

„Von der performativen Aussage 'Das Volk erhebe sich...‘ zum begrifflichen Ausdruck 'Volks-Bewegung‘ ('mouvement populaire‘) zeichnet sich eine thematische Wegstrecke ab, deren Beschreibung uns die 'Sprechweise des Volkes‘, wie sie die Jakobiner praktizieren, verstehen hilft.

Die Jakobiner greifen das grundlegende Problem der Theorie Rousseaus, die Konstrukton des Volkes, wieder auf und stellen es auf den Boden der Begründung einer politischen Sprache. Rousseau und Robespierre entdecken in je verschiedenen diskursiven Kontexten die Sprache des wirklichen Volkes, d.h. jene Sprechweise, welche die Identität des materiellen und des formellen Prinzips, die Identität des universell Gültigen und des Einzelnen in der Politik aussagt.“

Für zwei kurze Jahre wird einer zu zeigen versuchen, daß die Sprache des Volkes auch ohne Wirklichkeit auskommt weil er, Robespierre, alle Wirklichkeit in sich vereint. Wie in seinen Reden der Aufruf zum Ungehorsam - „Das Volk erhebe sich...“ - zur Volks-Bewegung gerinnt, so wird jedes seiner Worte im Handumdrehen zum Gesetz.

Wie und wo Jacques Guilhaumou den universellen Gemeinwillen, die „Volks-Bewegung“, dann konkret verkörpert findet, das gehört zum Merkwürdigsten seiner Lektüre der Revolution. Als mit der Machtübernahme der Jakobiner auch die terreur an die Tagesordnung kam, die permanente Wachsamkeit eines jeden Staatsbürgers gegen sich selbst und seinen Nächsten, da traf der Verdacht auch so manchen, der kurz zuvor noch zu den Wortführern der Revolution gezählt hatte: Leclerc, der „Bastille-Sieger„; Isoard, der Provinz -Jakobiner; de Sade, der Pariser Sektionschef... Und ein jeder mußte dem Gericht seine Staatstreue beweisen. So entstand fast über Nacht jenes Archiv der autobiographischen Rechtfertigungsschriften, die dem verdutzten Leser in toto ein perfektes Volk vorführt.

„Seit Juli 1789, als ich zu den Waffen gegriffen habe und am 14.Juli die erste Garde mitgebildet, feuerte meine Stimme die Bürger an.“ So beginnen sie alle, diese ersten Autobiographien moderner Citoyens. Daß sich die reinste Form staatsbürgerlicher Bekenntnisse auf Knastpapier abzeichnet, aber ist dem Jakobiner Guilhaumou eher ein Grund zur Freude. Ist es doch ein Beweis mehr dafür, daß das Archiv der Franzöwsischen Revolution mit seinen Konventsreden und Flugblättern, Kirchenbüchern und eben auch Rechtfertigungsschriften eine Epochenschwelle markiert. Auf ihr konstituiert sich ein neues unüberschreitbares Wissen von Politik und Subjektivität, das individuelle Allgemeine namens Staatsbürger. Der Revolutionär bildet sich zur allseits verwendbaren Persönlichkeit, und - so resümiert Guilhaumou - damit entsteht „ein politisches Wesen, das dem Ziel der menschlichen Freiheit verpflichtet ist.“