Durch die Brust ins Auge

■ Die Oper „Vincent“ in Brüssel

Tragisches Künstlerschicksal hat es der Nachwelt oft angetan: Immer wieder drängt es zur Bewältigung, Durchdringung, zu weiterer künstlerischer Verarbeitung. Gerade das kurze Leben und lange Sterben Vincent van Goghs hat die Kunstsinnigen im 20.Jahrhunderts gerührt und erschüttert. Der 100.Todestag (29.Juli) würde, das war abzusehen, die Geschäfte des Gedenkens auf allerlei Weise beleben. Daß es nun aber schon so dünn käme, allerdings nicht.

Die in Antwerpen ansässige (freie) Musiktheater-Gruppe „Transparant“ hatte zum bevorstehenden van-Gogh-Jubiläum zwei Kompositionsaufträge vergeben, deren Resultate nun an einem Abend im Theatre Ancienne Belgique neben der Brüsseler Börse vorgestellt wurden. Raoul de Smet, der im vergangenen Jahr durch die Uraufführung der Kammeroper Ulrike (über die Leitfigur der Baader-Meinhof-Gruppe und die Tragödie der „Rote Armee Fraktion“) in Gent hervorgetreten ist, komponierte (nach einem Libretto von Michel Thijs) Vincent. Der genaue Titel: „Die letzte Stunde Vincent van Goghs. Apologie in einem Bild.“ Von Paul Beelaerst bekam „Transparant“ die Tanz-Komposition Girasoli geliefert, deren Titel auf die im Werk van Goghs hervorstechenden Sonnenblumen anspielt, auf den sich der Sonne zudrehenden und an ihr rasch verdorrenden Künstler. Ohne sich auf „faßbare Handlung“ zu stützen, wollte Beelaerts „der künstlerischen Suche nach dem Absoluten“ Ausdruck verleihen und die „Zudringlichkeit der Gesellschaft gegenüber dem Künstler“ brandmarken.

Zu hören war eine handelsübliche Mischung der zwischen Donaueschingen und Den Haag gepflegten konservatorialen Musik-Schreibstile. Musikalisch also im Westen nichts Neues. Zu sehen waren (vor weißem, in unterschiedliches Licht getauchtem Tuch) drei junge Herren. Aus der Erstarrung winden sie sich durch Drehungen dem Licht zu, verüben allerhand Lauf- und Bodenturnübungen: Das künstlerische Ich, sein Über-Ich und das Es auf dem Weg zum Absoluten. Wenn es denn da lang geht. Dieser Weg zum künstlerisch Höchsten mag mit guten Vorsätzen gepflastert gewesen sein noch und noch; daß er über die milden Gefilde des bloß Dekorativen hinausgelangt wäre, vermochte ich nicht zu erkennen. So nahm man Girasoli als Vorspiel auf dem Theater für Vincent und nicht weiter vergrämt den Pausen-Drink in dem ziemlich heruntergekommenen Brüsseler Altstadttheater.

Raoul de Smets van-Gogh-Huldigung wächst aus einer ausladenden Trauermusik mit großer expressiver Geste; die tiefen Streicher, Bläser und Akkordeon verbinden sich zu charakteristischen Farben. Dann knallt's. Vincent stürzt herein, hält sich die Hand vor den Ketchup-Fleck auf dem weißen Hemd, wirft die Pistole weg und legt sich - zwischen Ottomane und Waschtisch - mal hier, mal da zum letzten Leiden nieder. Er quält sich. Und seine Zuhörer, da es an der Befähigung zum Singen im Theater so gut wie gänzlich fehlt. Aus dem Nebel tauchen nacheinander verschiedene Angehörige auf: der Vater, der ihm strenge Vorhaltungen macht; die unerreichbare Nichte, die sich seinem Liebeswerben so klar wie heftig entzogen hatte; die Prostituierte, mit der er zeitweise zusammenlebte; der Bruder, der ihm allzeit eine Stütze war und der ihm auch in der letzten Stunde beisteht.

Um die Kunst van Goghs und ihre Rezeption will und kann es dieser Veroperung des Finales eines (in bürgerlichem Sinn) gescheiterten Lebens nicht gehen. Da wären Ausstellungen oder Filme ohnehin die geeigneteren Formen. Warum es aber eine Oper hat sein müssen, wird auch bei allem Wohlwollen nicht einsichtig. So ging dieser frühe Gedenktagsbeitrag durch die Brust des Malers ins Auge. Dabei hatten wir gehofft, daß etwas zustandekommt, was der explosiven Produktivität van Goghs korrespondiert, was ins Ohr sticht oder zu Herzen geht.

Frieder Reininghaus