Scheibengericht: Bernd Alois Zimmermann/Christof Lauer/Die Haut/Luigi Cherubini/Paco de Lucia/Michael Nyman/Olivier Messiaen/Tracy Chapman/Ketil Hvoslef/The Musicians of.../They might be giants

MONTAG, 12/2/9017 o BERND ALOIS ZIMMERMANN

Requiem für einen jungen Dichter. Phyllis Bryn-Julson, Sopran; Roland Hermann, Bariton; Lutz Lansemann und Hans Franzen, Sprecher; Manfred-Schoof-Quintett, Kölner Rundfunkchor, Chor des Norddeutschen Rundfunks, Wiener Rundfunkchor, Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Gary Bertini. Wergo CD WER 60180-50

Das ist die zweite Einspielung des Zimmermannschen Linguals. Die erste, ein Live-Mitschnitt vom Holland-Festival 1971, wurde von Michael Gielen dirigiert, 1980 als Platte vom Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. herausgegeben und an Interessierte verschenkt (Spendenaufforderung beiliegend). Die erste Fassung hat der WDR aufgenommen, die zweite, die Gary Bertini dirigierte, aber auch. Nur muß man jetzt dafür bezahlen. Weitere Unterschiede? Im Großen nicht, denn Zimmermann hat den Gesamtverlauf minutiös festgelegt, und seine Tonbänder mit den Zitaten von Wittgenstein, Joyce, Aischylos, Majakowskij, Mao, Schwitters und den Originalreden von Dubcek (1968), Papst Johannes dem XXIII., Imre Nagy oder Hitler wurden selbstverständlich wiederverwendet. Die wenigen Änderungen, die die gewaltige Simultancollage aus Kantate, Hörspiel, Feature, Oratorium und Reportage unter Bertini erfahren hat, betreffen technische Details, die das Klangbild (noch) differenzierter erscheinen lassen, - und wenn Papandreou anfängt, von der Demokratie zu reden, wird er auch schon mal im Sampling-Verfahren zurückgeholt. Interpretatorische Abweichungen bewirken dagegen manchmal eine theatralische Vergröberung - wenn etwa im Lamento („Sind Sie denn bei Verstand?“) der Sprecher statt des notierten Sprechgesangs furiose Rufe anbietet, die er im folgenden („Nun sind sie fort...“) zu Schreien steigert, wo Zimmermann vorschrieb: frei gesprochen, ohne Pathos. Aber das sind Kleinigkeiten, die der beeindruckenden Kugelgestalt der Zeit keine Dellen zufügen können. o CHRISTOF LAUER

CMP CD 39

Ich vergesse nie, wie er beim Frankfurter Jazzfestival sein Solo über ein ganz konventionelles Thema blies und damit dieses ungeduldige Publikum in ein hellwaches Schweigen versetzte. Egal, was Christof Lauer sich vornimmt: das Spiel ist für ihn eine künstlerische Disziplin. Und mit dieser professionellen Haltung befindet er sich in der Gesellschaft der wichtigsten Musiker aller Genres. Die Stücke auf der CD, die er mit Joachim Kühn, p, Palle Danielson, b, und Peter Erskine, dm, bespielt hat - zum ersten Mal stellt er vier eigene Kompositionen vor - sind keine Arrangements: Elegien, Balladen, Bop - das Einfache, was schwer zu machen ist, und das Komplizierte, was so mühelos daherkommt, unglaublich virtuos, ausdrucksstark, packend. o LUIGI CHERUBINI

Requiem c-Moll. Rundfunkchor Berlin, Berliner Sinfonieorchester, Claus Peter Flor. RCA Victor RL 60059

Das Scheibengericht unterscheidet sich vom Jüngsten Gericht hauptsächlich in der Beurteilung von Gehorsam und Wohlverhalten (im übrigen auch im Strafmaß). Die Komponisten hat aber immer nur das Jüngste interessiert, weil da die drohende Verdammnis länger, nämlich ewig dauert, - ein weit besserer Anlaß, starke Gefühle über musikalische Effekte zu vermitteln, vor allem, wenn das „Dies irae“, das „Tuba mirum“ und das „Rex tremendae“ der lateinischen Totenmesse den kathartischen Horror zur wirkungsästhetischen Auflage machen. Cherubinis Requiem steht nach denen Cimarosas und Mozarts an der Grenze der klassischen und der romantischen Ausdrucksweise, bevor Berlioz maßlos und genial in die Vollen greift. Der melodiöse Gleichmut des Chores (Solisten sind nicht vorgesehen) setzt sich in Spannung zu den affektiven Instrumentalharmonien. Cherubini wühlt mit der Gebärde der Beruhigung auf, sein Trost vermittelt Verzweiflung. Die Einspielung wird der ambivalenten Aufgabe gerecht. Aber warum der Name des Dirigenten (mit Konterfei) auf dem Cover in roten Lettern hervorgehoben wird, während Gegenstand und Ausführende in schwarzen zurücktreten, ist nicht zu begründen. o DIE HAUT

Die Hard. What's so funny about... EfA 08-02691

„Die Hard“ ist der Name einer amerikanischen Firma für Autobatterien. „Die Haut“ aber ist aus Berlin und muß etwas im Kopf haben, was dem marktwirtschaftlichen Gang leider völlig widerspricht. Sie scheren sich nämlich mit ihren zwei Gitarren, Baß und Schlagzeug den Teufel um die epochalen Spieltraditionen. Was soll ihnen Hendrix, Clapton, Winter oder Zappa, wenn es doch um Erinnerungen an Filme, um Kommentare zur Musik von Bernhard Hermann und anderen Gruppen oder um literarische Bezüge geht? „Die Haut“ bequemt sich auf ihrem Instrumentalalbum nicht einmal zur Songstruktur, sondern baut ihre Musik aus wenigen Motiven über puritanischen Modulationen zusammen. Ungeschlacht und streng hört sich das an. Man muß sich nur mal die beiden Teile vom „Garden of Agony“ zu Gemüte führen, um diesen neuen Anspruch zu bemerken. o PACO DE LUCIA

Philips 6328 171

Der Mann spielt sich die Finger wund. Technische Perfektion kann zum Fluch werden: ständig Konzerte, eine Platte nach der anderen und der Vorwurf, die Seele der spanischen Gitarrenmusik werde unter solch massiver Virtuosität begraben. In Seelen misch‘ ich mich nicht ein, vor allem nicht in begrabene. Als Deutscher habe ich jedenfalls ein wenn vielleicht auch ein illegitimes - Vergnügen an den Flamencos, Bulerias und Fandangos, wie sie Paco de Lucia auszirkelt. Nur ein Virtuose seines Ranges kann diese Musik aus dem Souterrain der Schmachtfetzen ziehen und ihr Sentiment in einer stupenden Spieltechnik aufheben. Und nur sein artistisches Können macht mir die Idee der iberischen Musik zugänglich. Sonst käm's mir nur spanisch vor. o MICHAEL NYMAN

The Cook, the Thief, his Wife & her Lover

Venture VE 53/Aris

Michael Nyman hatte die Musik zunächst als Memorial für die 39 Italiener komponiert, die Ende Mai 1985 im Brüsseler Heysel Stadion zu Tode gekommen waren. Als dann Peter Greenaway für seinen kannibalischen Film eine passende Musik suchte, kam ihm das Memorial gerade recht. (Das gesamte Memorial wurde dann 1989 aufgeführt, nachdem 95 Liverpooler Fußballfans in Nottingham Forrest zerquetscht wurden.) Wer den Film gesehen hat, wird sich gerne Paul Chapmans Küchensopran im Miserere versichern, denn nur mit diesen Bildern im Kopf wirkt der Gesang des geschundenen Knaben weiter. Der Memorial-Teil ist auch ohne Kino genießbar, selbst wenn man schon weiß, auf welche Weise Michael Nyman seine periodischen Konzepte auszuspielen pflegt. o OLIVIER MESSIAEN

Chronochromie / L'Ascension. Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Karl Anton Rickenbacher, koch schwann / Musica Mundi 111 015 FA

Im Plattentext steht: Chronochromie wird sich im Gegensatz zum Frühwerk L'Ascension dem Hörer nicht leicht erschließen. Nicht nur die weniger sinnenfreudige Oberfläche bietet Widerstände, sondern die immanenten Ansprüche an das Hörervermögen. Der Komponist hat eine Skala von 32 verschiedenen Dauern verwendet. Wer vermag sie recht nachzuerleben? Der Komponist verwendet seine Version von altgriechischen Rhythmen und den Rufen europäischer und exotischer Vögel. Wer vermag sie wiederzuerkennen? Das nenne ich erstens ohne Not Hörer verscheuchen und zweitens sowieso einen Quatsch. Weniger sinnenfreudige Oberfläche, nur weil Chronochromie nicht so spätromantisch klingt wie die 1933/34 komponierte Himmelfahrt? Aber es ist ernst gemeint! Und es ist ebenso unsinnig wie die „Ansprüche“, man müsse Chronologe, Altphilologe oder Ornithologe sein, um Messiaens Musik hören zu können. Niemand muß Dauern nacherleben oder Exoten wiedererkennen. Das Stück erschließt sich sehr leicht auch ohne Schnabeltier, besondern wenn es so klar und durchhörbar gespielt ist wie auf dieser Aufnahme. o TRACY CHAPMAN

Crossroads. Elektra/ WEA 960 888-1

Daß Tracy Chapman jetzt so einen Erfolg hat, sagt man mir, zeigt, daß die Leute die elektronischen Faxen dicke haben, die Frau sei vorher ebenso gut gewesen. Wende zur Einfachheit, zum unpathetischen Gesang, zu akustischen Instrumenten? „Der Teufel ist ein leibhaftiger Mensch“, heißt es in Crossroads, „ist ein Narr, ist ein Lügner, Taschenspieler und ein Dieb. Er versucht dir einzureden, was du willst, versucht dir einzureden, was du brauchst.“ Ich habe lange nicht mehr so gute Texte gehört, so überzeugend gesungen, so dezent und stimmig musikalisiert. Wendet man sich dem zu, ist mir um Tracy Chapmans Erfolg nicht bange. o KETIL HVOSLEF

Concerto for Contrabasso, Rondo con Variationi, Octet for Flutes, Concertino per Orchestra. Aurora Contemporary NCD 1919

Wer sich in Skandinavien in irgendeiner Weise hervortut, erklärte mir ein Schwede, gilt als sozial unverträglich. Damit hängt zusammen, daß sich niemand findet, der uns Mitteleuropäern den kontinuierlichen Zugang zur ungeheuer lebendigen Musikkultur des Nordens ermöglicht. Doch manchmal gibt es Überraschungen. Nachdem jahrzehntelang nahezu nichts aus Norwegen zu uns gedrungen ist, kommt plötzlich auf einen Schlag eine Kollektion von 26 (in Worten: sechsunzwanzig) CDs, auf denen ein Querschnitt der norwegischen Orchester und Kammermusik dokumentiert ist. Arne Nordheim kennt man vielleicht noch in unseren Kreisen, aber Egil Hovland, Geir Tveitt, Knut Nystedt, Harald Saeverud, Finn Mortensen, Olav Anton Thommessen? Wer kennt den Lappen John Persen, der in Finnmark Musiker, Lehrer und Landwirt war, bevor er 1968 ans Konservatorium nach Oslo ging und Anfang der achtziger Jahre mit dem Rockmusiker Joran Rudi die elektronische Musik entdeckte? Zu spät? Manchmal hört es sich so an. Oder Ketil Hvoslef, der mit seinem „Concertino per Orchestra“ eine Musik von transparenter Klarheit und präzisem thematischem Material schreiben wollte, „die Gefühle auslöst, wie sie etwa beim Hören einer Haydn-Sinfonie entstehen“, und dann wie Strawinsky im Sacre einen knalligen Dauerpuls installiert. Es entsteht der Eindruck, als ob die Norweger nie etwas hinter sich lassen: Entwicklung ist da nicht Ablösung, sondern zögerliche Addition. So sind auf dieser Nationalkollektion die Stilepochen aller Zeiten seit der Wiener Klassik gleichermaßen präsent. Aber komponiert

MONTAG, 12/2/9023 o

wurde das meiste in den letzten zwanzig Jahren. Ein lebendiges Mu seum. Viellicht ist die Alternative in Norwegen sozial unverträglich. o THE MUSICIANS OF THE NILE

Luxor to Isna, Realworld RW LP 8 Virgin 210 288

Ich habe an dieser Stelle mehrfach über die ignorante uand verachtende Zurichtung und Vermarktung internationaler Volksmusiken geflucht, die unter der Bezeichnung „Weltmusik“ in den Regalen der Plattenläden stehen. Das wird auch weiterhin so sein. Aber ich will keine Kinder mit Bädern ausschütten. Denn was Peter Gabriel auf seinem Realworld -Label veröffentlicht, ist so redlich gedacht wie gemacht. Auf der achten Platte der Serie ist die Musik ägyptischer Nomaden aufgenommen; und die einfachen, spannenden Stücke mit Rababah, _argh_ul, d_oholah und tablah sind mait kundigen Ohren ausgewählt worden: Enorme Präzision im Zusammenspiel, selbstverständliche Sicherheit beim jähen Tempowechsel und bei der Überlagerung verschiedener rhythmischer Patterns, eine nahezu moderne Verbindung von periodischen Strukturen und hingebungsvollem Ausdruck bei den quäkenden Blasinstrumenten - wonach hier viele zeitgenössische Musikerkomponisten streben, das machen die da, seit die Pyramiden stehen (nehme ich mal an). o THEY MIGHT BE GIANTS

Food, Elektra / WEA 960 907-1

Die kommen aus New York, machen Popmusik und sind dennoch sehr musikalisch, witzig, poetisch, einfallsreich. Da gibt es - ganz altmodisch - noch so richtige melodisch -harmonische Ideen, bei denen man wieder mal die Ohren stellen darf. Wer's nicht glaubt, höre sich mal Birdhouse in your Soul an oder Whistling in the Dark. Wenn die so weiter machen, schicke ich ihnen eine Vorladung.