Da wird ein regelrechtes Traumverbot ausgesprochen

Günter Grass plädiert für eine Konföderation und gegen das Einheitsgeschrei  ■ I N T E R V I E W

taz: Günter de Bruyn, aber auch Monika Maron werfen vielen Intellektuellen in beiden deutschen Staaten vor, die DDR als „Nationalpark sozialistischer Utopien“ zu betrachten. Fühlen Sie sich von diesem Vorwurf getroffen?

Günter Grass: Ich halte von solchen pauschalen Vorwürfen überhaupt nichts. Es ist natürlich Monika Maron unbenommen, sich im 'Spiegel'-Jargon einzureihen in den Trend des von der 'FAZ‘ bis sonstwohin reichenden verallgemeinernden Schimpfens auf die Intellektuellen. Das ist offenbar zur Zeit Mode.

Günter de Bruyn hat den Vorwurf auch erhoben...

Aber er hat das nicht auf die Intellektuellen bezogen. Er hat gesagt, es gibt Leute, die bestimmte Spezifika der DDR zur Idylle hochloben und erhalten wollen. Ich habe weder von Stefan Heym, der da beschimpft wird, noch von Christa Wolf irgend etwas Derartiges gehört. Die beiden zuletzt Genannten erleiden im Augenblick eine furchtbare Enttäuschung mit all ihrer Opposition gegen die SED. Mit dem Zusammenbruch der Partei geht bei denen auch ein Traum kaputt. Aber es wird doch noch wohl erlaubt sein, darüber traurig, zornig zu sein, darüber nachzudenken, ob dieser Traum in der DDR noch jenseits der SED zu retten ist.

Ist er denn zu retten?

Ich glaube nicht. Im übrigen: Meine Position gegenüber der SED war immer klar. Aber ich konzidiere Menschen, die für ihre Überzeugung streitbar gegenüber der SED aufgetreten sind - wie Stephan Heym und Christa Wolf - daß sie ihrem Traum nachhängen. Und ich frage mich, ob das jetzt alles auch noch aus der linken Ecke pragmatisch niedergebügelt werden muß. Es ist doch auch ein Verlust, den da beide Staaten erleiden, wenn ein Teil dieser gescheiterten Geschichte einfach so eingeebnet wird. Dahinter verbirgt sich diese Mentalität, bei der es zu dem Schluß heißt: Mit dem Ende der SED ist auch der Traum vom demokratischen Sozialismus ausgeträumt.

Für Osteuropa zumindest scheint das zuzutreffen...

Man kann doch nicht die Frechheit haben, das einem Alexander Dubcek vorzuhalten, der nach 21 Jahren aus Bratislawa zurück nach Prag kommt und neben Vaclav Havel auf dem Balkon steht und sagt: „Jetzt können wir endlich unseren Traum vom demokratischen Sozialismus, vom Sozialismus mit menschlichem Gesicht versuchen.“ Ich weiß, Havel ist ganz anderer Meinung, er hat diesen Traum nie gehabt, aber sie tolerieren einander. Beide haben voreinander einen ungeheuren Respekt. Ich bin skeptisch gegenüber diesem Traum, wie Dubcek ihn formuliert, aber es widert mich regelrecht an, wie jetzt, auf dieser Modewelle reitend, alles, was mit diesem Traum auch nur annähernd zu tun hat, weggebügelt und ein regelrechtes Traumverbot ausgesprochen wird, das in letzter Konsequenz bedeutet: Nicht das Volk in Leipzig oder in Prag hat gesiegt, sondern der Kapitalismus.

Wie erklären Sie sich das Schweigen der westdeutschen Intellektuellen angesichts des Zusammenbruchs des SED -Staats? Ist das Verunsicherung?

Ich schweige nicht und kann für andere nicht antworten. Mich macht die Entwicklung ungeheuer beredt. 1967 habe ich zum ersten Mal in einer Rede, „Die kommunizierende Mehrzahl“, die Möglichkeit einer deutsch-deutschen Konföderation skizziert. Dinge über die man heute ernsthaft sprechen muß. Man hat mich damals ausgelacht.

Sie sind ein vehementer Verfechter der Zweistaatlichkeit und ignorieren damit diejenigen, die in Leipzig und anderswo in der DDR die Einheit wollen. Warum?

Ich bin kein Verfechter der Zweistaatlichkeit. Ich gehe davon aus, daß es zwei Staaten einer Nation gibt. Ich habe immer schon von der Kulturnation gesprochen; ein Begriff, den man natürlich modifizieren muß. Man kann nicht bei Herder stehenbleiben. Ich bin entschieden gegen eine Zweistaatlichkeit im Sinne von Ausland zu Ausland. Alles, was ich in der Vergangenheit dazu gesagt habe, lief darauf hinaus, daß man die deutsche Frage jenseits davon und jenseits von Wiedervereinigung lösen muß. Alles, was wir in Deutschland jetzt machen, müssen wir mit kenntnisnehmendem Blick auf unsere Nachbarn hin machen. Die haben ihre Erfahrungen mit uns gemacht, wie wir sie ja auch mit uns selbst gemacht haben. Die Folgen davon haben wir bis heute zu tragen. Ich meine den Nationalsozialismus und das übergroße Verbrechen, das durch nichts, weder durch einen Historikerstreit noch durch Einheitsgeschrei, wegzurelativieren ist. Das bleibt und lastet und muß mitgedacht werden, wenn man heute über Deutschland nachdenkt.

Hier Portrait GRASS

Werfen sie denen, die heute in Leipzig „Deutschland, einig Vaterland“ rufen ihr mangelndes historisches Bewußtsein vor?

Ich verüble es keinem, der unter dem wirtschaftlichen Druck in der DDR nach Einheit ruft, aber ich verüble es Politikern, die die Aufgabe haben, jetzt nicht einer Volksstimmung nachzulaufen, die aus sich heraus berechtigt ist, sondern die die Aufgabe haben, ein Konzept zu entwickeln, das für uns und unsere Nachbarn zuträglich ist. Wenn sie das unterlassen und den Trends nachlaufen, befinden wir uns wieder in einem geschichtlichen und politischen Gefälle, das besonders in Deutschland Vorläufer hat. Davor fürchte ich mich.

Kann man denn politisch - nicht vom Gedächtnis, vom Gewissen her - den Rufen in Leipzig und anderswo, „Wir sind ein Volk“, mit dem Verweis auf Auschwitz begegnen?

Nein. Der Politiker muß dem Volk antworten, ja, wir sind ein Volk. Aber die Geschichte hat es uns auferlegt, daß wir in zwei Staaten leben. Wir müssen eben versuchen, dennoch ein Volk zu sein und eine Form zu finden, die all dem Rechnung trägt, was auf uns lastet. Und dazu gehört in erster Linie Auschwitz. Trotz Auschwitz muß es möglich sein

-und das ist unseren Nachbarn zuzumuten - eine Form zu finden, die erträglich ist. Deswegen schlage ich die Konföderation vor. Sie ist keine Machtballung, sie ist etwas, das sich viel leichter in ein zukünftiges Europa integrieren läßt als der 80-Millionen-Staat, der all denen vorschwebt, die aus ihrer Not heraus in der DDR „Deutschland, einig Vaterland“ rufen, und den Politikern hier, die das beschwören, obwohl sie es besser wissen müßten. Die Politiker geben diesem Druck nach und lancieren ein solches Versprechen jetzt auch noch in den Wahlkampf der DDR. Die Wirklichkeit Europas wird sie zurückrufen. Ich bin da ziemlich sicher. Das von mir vorgeschlagene und weiter auszuführende Konzept einer Konföderation wird noch einmal zur Debatte stehen.

Willy Brandt spricht ja inzwischen auch wieder von Konföderation...

Das hat mich sehr gefreut...

Ist mancher Streit im Augenblick nicht auch ein Streit um Begriffe? Ich habe oft den Eindruck, der Begriff Konföderation ist so dehnbar, daß darunter auch die Einheit zu fassen wäre.

Alle Härten sind weg. Es gibt in allernächster Zeit zwei demokratisch gewählte Regierungen in beiden deutschen Staaten. Zukünftig braucht es keine Paßgrenze mehr zu geben. Danach könnte es eine gemeinsame Staatsangehörigkeit in der Konföderation beider deutscher Staaten geben, eine Wirtschaftskonföderation. All das ist möglich. Und dennoch bietet es die Möglichkeit innerhalb der DDR, all das, was man sich im Gegensatz zur Bundesrepublik erkämpfen mußte und erkämpft hat - ich meine die Freiheit - im eigenen Bereich auszuleben. Die Konföderation bietet darüber hinaus die Möglichkeit, in Ruhe die fünf Länder wieder aufleben zu lassen. In einer verfassunggebenden Versammlung der beiden Regierungen oder des Bundesrates und einer adäquaten Institution in der DDR könnten alle weiteren Schritte, die die Konföderation aus sich heraus verlangt, vorbereitet und realisiert werden.

Das hört sich schön an, nur unter der Hand laufen immer mehr Leute aus der DDR weg.

Zuallererst, am Anfang muß etwas anderes stehen: Die Bundesrepublik muß der DDR den ihr zustehenden Lastenausgleich zahlen. Es steht doch ohne Abstriche fest, daß dieser kleinere Staat - und das ist keine Entschuldigung für die SED - die größten Nachkriegsfolgen tragen mußte: Reparationen, Demontage, Knebelverträge wirtschaftlicher Art, die bis heute wirksam sind. Vergessen werden darf auch nicht: In der DDR gab es keinen Marshallplan. All das muß man bedenken. Im übrigen gebietet es der Anstand, daß die Bevölkerung der DDR aus dieser demütigenden Bittstellerrolle herauskommt.

Bis jetzt habe ich immer nur von Bedingungen für finanzielle Hilfen des Westens gehört. Selbst die sechs Milliarden D-Mark sind noch nicht einmal in erster Rate ausgezahlt. Und dann wundert man sich, wenn viele Menschen drüben es nicht mehr aushalten und herkommen. Da entsteht ein Sog, der vernünftiges Handeln auf beiden Seiten unmöglich macht. Das geht mittlerweile nicht mehr allein auf das Konto der Mißwirtschaft der SED, sondern das geht auch auf das Konto der gegenwärtigen Regierung, die es versäumt hat, ab November ohne Wenn und Aber Dinge zu tun, die den Einzelnen in der DDR bewogen und motiviert hätten, dort zu bleiben, auszuhalten.

Ihre Forderung nach Lastenausgleich, so vernünftig sie ist, hat, so finde ich, einen Haken: Vor der Bundestagswahl im Dezember wird niemand, keine Partei, auch nicht die SPD damit rausrücken, wie teuer die Sanierung der DDR tatsächlich wird. Wer hier Wahlen gewinnen will, wird die Zahlen bis dahin verschleiern.

Ich schließe eine solche Feigheit aller Parteien bis in die Gewerkschaften hinein nicht aus. Ich hoffe, daß es dennoch anders kommt.

Wie erklären Sie sich die deutschnationale große Koalition in der Öffentlichkeit, die von der 'FAZ‘ über Augsteins 'Spiegel‘ bis hin zu Springer alles einschließt?

Bei der 'FAZ‘ überrascht mich das nicht. Es überrascht mich, daß ein Mann wie Herr Schirrmacher, der nach der Ära Reich-Ranicki angetreten ist, ein bißchen frischen Wind ins Feuilleton der 'FAZ‘ zu bringen, jetzt - wahrscheinlich nach einigem Stirnrunzeln der Herausgeber - auf Linie läuft. Zum 'Spiegel‘: Ich glaube, Augstein war immer schon ein Deutschnationaler. Daß er sich an diesem Punkt im Blatt durchsetzt, fällt auf die Mitarbeiter des 'Spiegels‘ zurück. Die müssen sich fragen, was aus ihrem Blatt geworden ist. Mich wundert es, daß so etwas ohne Palastrevolution vonstatten geht. Es ist verblüffend, daß der 'Spiegel‘ ein solcher Untertanenverein geworden ist, der mehr und mehr, wenn man das Blatt aufmerksam liest, diesen Kurs des Chefs mitmacht. Das ist ein Substanzverlust an Demokratie, den wir mittlerweile in der Bundesrepublik erleiden, eine Uniformität der Meinungen, der zu widersprechen, ich mir herausnehme.

Interview: mtm